Konterrevolutionäre Dekadenz

Wie dekadent bist Du? (Author’s cut, PDF 52 KB)

Seit Dekadenz Kampfbegriff politischer Unmenschen geworden ist, kann man sich dazu nur affirmativ verhalten. Und ich denke nicht nur an die antisoziale Propaganda von Westerwelle.

Blicken wir auch auf die Reaktion des seit Jahren amoklaufenden Jürgen Elsässer auf die Massenproteste im Iran: “Hier wollen Discomiezen, Teheraner Drogenjunkies und die Strichjungen des Finanzkapitals eine Party feiern. Gut, dass Ahmadinedschads Leute ein bisschen aufpassen und den einen oder anderen in einen Darkroom befördert haben.”

Finster. Da fragt man sich, ob es in Deutschland so wenig Solidarität mit den mutigen Iranerinnen und Iranern gibt, weil sie etwas gewagt haben, was hierzulande nie versucht worden ist: ein mörderisches Regime von megalomanen Antisemiten zu stürzen.

Banalität des Neides

Hinter dem Hass auf Dekadenz stehen alte Ressentiments: gegen Frauen, Homosexuelle, HedonistInnen. Und, über den Umweg des Lohnarbeit-Fetisch als Gegensatz zum “raffenden US-Ostküstenkapital”, das verbissenste und langlebigste: der Antisemitismus. Und dahinter steckt – wie so oft – banaler Sexualneid, gepaart mit Paranoia: Finstere Mächte wollen mit Hilfe von Pornographie, der Propagierung von Promiskuität, Homo-, Bi- und Transsexualität den virilen Volkskörper zersetzen.

Der biopolitische Nationalismus träumt von der “Großen Gesundheit” wie einst Friedrich Nietzsche, der eingeschworene Feind der Dekadenz: “Den Erschöpften lockt das Schädliche: den Vegetarier das Gemüse.” Also sprach Zarathustra: Fleisch sei Euer Gemüse!

Fröhliche Wertlosigkeit

Zugleich bekannte er, selbst ein decadent zu sein: “Ich liebe die Untergehenden, denn es sind Übergehende.” Dem Verfall verfallen – die einen nennen es dekadent, die anderen subversiv: Die Bekämpfung des Ressentiments, des schlechten Gewissens, der Lustfeindlichkeit und des Antisemitismus wären nicht die schlechtesten Errungenschaften eines sogenannten “Linksnietzscheanismus”, der die frohe Botschaft verkündet: Die Zeit der Herrschaft des Wertgesetzes ist bald vorbei! Denn es ist die Maßlosigkeit unsrer Forderungen (“Her mit dem schönen Leben!”), die das Kapital um den ganzen Globus gejagt hat, so dass es heute mit dem Rücken zur Wand, bzw. zum All steht: ALLES FÜR ALLE!

Spargeljustiz

Die ‘Umkehrung der Werte’, die uns von der Moral befreit, begründet eine neue Ethik, die nicht den Verzicht predigt, sondern den Genuss praktiziert, ohne das Gewissen zu negieren. Nehmen wir uns ein Beispiel an Bertolt Brecht, dem eines Tages in seinem Lieblingslokal schlechter Spargel serviert wurde. Als er nach dem Beschwerdebuch fragte, wurde ihm sehr schnell neuer, sehr guter Spargel gebracht. Als er danach immer noch nach dem Beschwerdebuch verlangte, fragte ihn der verdutzte Kellner: “War der Spargel immer noch nicht gut?” “Doch, aber ich beschwere mich im Namen desjenigen, dem nun der schlechte Spargel vorgesetzt wird.”

Wir sind (nicht nur) gekommen, uns zu beschweren… Wir, dekadente Dissidenten, machen weiter: “We will never stop living this way!” So ruft Euch der manic street preacher in Austin, Texas in dem überirdisch-schönen Film Slacker zu: “Keep on keeping on!” Yo, bro!

Autor

Alexander Karschnia