ÜBER HEINER MÜLLER'S POSTDRAMATISCHEN KLASSIKER "Die Hamletmaschine" (1977)

„Die Aktualität der Kunst ist morgen“ behauptet Heiner Müller – es fragt sich also, ob Die Hamletmaschine 1977 nicht viel unzeitgemäßer gewirkt hat als heute? Klangen Hamlets Reden von „Europa“ nicht entweder antiquiert oder vollkommen utopisch in einer Welt, die in West- und Osteuropa geteilt war? Der Sturz der Stalin-Statuen lag schon 21 Jahre zurück, der Lenins dagegen 12 Jahre in der Zukunft. Heute wird in Russland öffentlich über die Neu-Errichtung von Stalin-Statuen diskutiert, während russische Truppe gerade dessen georgischen Heimatort Gori heimgesucht haben. Als 1956 sowjetische Truppen in Budapest gegen eine Menschenmenge eingesetzt wurden, die sein monumentales Abbild geschleift hatte, mussten sie dort zur selben Zeit gegen eine Menge vorgehen, die es vorm Abriss schützen wollte. History repeating? Letztes Jahr hat allein die Ankündigung, das Denkmal für die Rote Armee in Tallinn zu versetzen zum Ausnahmezustand geführt, als Angehörige der russischen Minderheit dagegen aufbegehrten. In Budapest stehen mittlerweile alle Statuen aus sowjetischen Tagen friedlich in einem Themenpark versammelt. Dennoch wurde gerade jene Stadt zum Schauplatz einer beispiellosen Farce, als die rechte Opposition die 50 Jahrfeiern des Volksaufstandes zum Anlass eines gewalttätigen re-enactments nahm. Die Aufstände, die als Spaziergänge im gesamten Gebiet der ehemaligen Sowjetunion begonnen hatten, scheinen sich seitdem Milosevic am 5. Oktober 2000 in Belgrad gestürzt wurde, in ehemaligen Sowjetrepubliken wie Georgien zu wiederholen, wo im November 2003 die „Rosenrevolution“ Saakaschwili an die Macht brachte. Auf solche Geschichten haben Müllers einsame Texte gewartet, doch bleibt das dem betriebsblinden Blick zumeist verborgen. Statt Stücke zu „aktualisieren“ und gegenwärtiges Geschehen die Texte kommentieren zu lassen, lohnt es, die Gegenwart zu „historisieren“, um das Geschehen geschichtlich zu begreifen als zukünftig vergangenes. Die „Arbeit an der Differenz“, die Müller forderte im Umgang mit Shakespeare, spielt sich nicht im Hier und Heute ab, sondern zwischen gestern und morgen. „Wenn es jetzt ist, wird es nicht kommen; wenn es nicht kommen wird, wird es jetzt sein“, so Hamlet zu Horatio, nachdem er Laertes’ Herausforderung zum Duell angenommen hat: „wenns jetzt nicht ist, wird es doch sein: bereit sein ist alles.“ Das ist die Haltung des Spielers, der auf dem Sprung ist, um die vorbeihuschende Fortuna am Schopf zu fassen. Das sollte auch die Haltung des Schauspielers sein. Am Rand einer Manuskriptseite notierte Müller: „end of literature (‚begin of game’)“ Darunter mit Filzstift: „D. Drama ist zu Ende ‚Das Spiel beginnt’.“ Dazu muss jedoch der Text selbst aufs Spiel gesetzt werden wie in SHOWTIME: trial & terror , in der ein Glücksrad, dessen Spielfelder den fünf Akten entsprechen, die Dramaturgie des Abends bestimmt. Dem Zufall gehört die Zukunft, die dunkel ist wie eine black box – darin besteht die untergründige Verbindung zwischen Theaterraum und Zeitverlauf: „Wenn es jetzt ist…“ Dass das Spiel tödlich ernst sein kann, zeigt nicht nur der weitere Verlauf von Hamlets Drama, sondern auch die Geschichte: Als „großes Spiel“ hatte Molotow das Ringen der Mächte vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bezeichnet, seine Finte war der Pakt mit Ribbentrop, woraufhin sich die SU die baltischen Staaten einverleibte. Doch „Rien ne va plus“ gilt nicht in der Geschichte, das ist die gute Nachricht gegen die „Lüge vom POSTHISTOIRE“ (Heiner Müller). Heute gehören die baltischen Staaten statt zur SU zur EU, die auferstanden aus den „Ruinen von Europa“ sich immer weiter gen Osten ausdehnt. Doch Hamlets Revolte richtet sich genau gegen solche Superstaaten, wie ein andrer H.M., Henry Miller, in seinen Hamlet Letters schildert. Das „Ich spiele nicht mehr mit“ des Hamletdarstellers im 4. Akt ist die Grundformel der ‚Großen Weigerung’ (Herbert Marcuse), die sich in den 60ern nicht nur gegen den westlichen Konsumkapitalismus gerichtet hat, sondern auch gegen den Neoimperialismus beider Blöcke. Der Schritt „Vom Protest zum Widerstand“, den Ulrike Meinhof erst beschrieben, dann vollzogen hat, führt in den fünften Akt: „Hier spricht Elektra, unter der Sonne der Folter“. Philologisches Bemühen hat diese Worte in Sartres berüchtigtem Vorwort zu Frantz Fanons antikolonialem Manifest „Die Verdammten dieser Erde“ gefunden. Sartre sprach von der Wiederkehr der Folter in Algerien, Kongo und Vietnam als „Schande unsrer Zeit“. Doch in dieser Zeit – das ist das Unheimliche an der Relektüre der Hamletmaschine – leben wir immer noch: „wenns jetzt nicht ist, wird es doch sein.“

 

Autor

Alexander Karschnia

Veröffentlicht

Theater der Zeit, 2008-10-01