PERFORMERISM OR STOP PERFORMING ISMS:

„Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche!“ Dem Slogan der Weltrevolution erging es ähnlich wie seinem Urheber, Ernesto Che Guevara, dessen Name und Konterfei heute Modeartikel (Jeanshosen) und Genussartikel (Zigaretten) ziert, er wurde so oft wiederholt und zitiert, dass sich sein Sound verändert hat: er klingt heute wie das Motto von Motivationstrainern, das Mantra des sog. new managements. Dieses sog. new management ist so neu nicht mehr, der Begriff stammt aus den 80er und v.a. 90er Jahren und wurde vor einiger Zeit zum Gegenstand einer einflussreichen soziologischen Studie: „Der neue Geist des Kapitalismus“ von Boltanski & Chiapello. Verkürzend kann man sagen: Beruhte der alte Geist des Kapitalismus, den Max Weber in einer berühmten Studie untersucht hat, die protestantische Arbeitsethik, auf Triebverzicht (Profit machen ist ok, solange man spart, bzw. Kapital akkumuliert, statt im Luxus zu leben), beruht der neue Geist auf Hedonismus (Schulden machen ist ok, solange man exzessiv konsumiert). Für konservative Moralkritiker ist das eine Folge von ’68 und das stimmt auch – irgendwie: Der Postfordismus ist die Antwort des Kapitals auf die damalige Kulturrevolution – eine Konterrevolution im Wortsinne, die Umwertung aller gegenkulturellen Werte. Im Folgenden geht es mir um solche Revolutionen, Konterrevolutionen und Konterkonterrevolutionen im Wortsinne, also um Umkehrungen – um die Frage: wie kann man Umkehrung umkehren – und zwar indem man Che Guevaras Aufruf folgt, insbesondere dem ersten Teil: „Seien wir realistisch!“ Was heißt das heute, im Zeitalter des globalen Kapitalismus: realistisch sein. Ich werde also über den kapitalistischen Realismus reden (müssen). Zunächst möchte ich aber vorschlagen, Che’s Appell als mustergültigen Ausdruck des Performerismus zu verstehen, also als eine mögliche Antwort auf Lenins alte Frage: Was tun?

Doch einen Schritt vor, zwei Schritte zurück, wie ein andrer Titel von Lenin lautet, erst einmal ein Szenenwechsel: Düsseldorf 11. Oktober 1963, Möbelhaus Berges, in dem junge bildende Künstler, Gerhard Richter und Konrad Lueg, eine Ausstellung und Aktion organisiert haben mit dem Titel: „Leben mit Pop – Demonstration für den kapitalistischen Realismus“: Die Demonstration war eine Performance der beiden, die darin bestand, dass sie sich selbst mitausgestellt haben, auf einem Sofa und einem Sessel sitzend, die sie zu diesem Anlass auf weiße Podeste gestellt hatten (als wären es ready-mades), ansonsten beachteten sie die Besucherinnen und Besucher nicht. Obwohl diese Ausstellung von nur 122 Menschen besucht worden ist, fand sie doch eine enorme Beachtung, sie wurde als Kritik an der Welt des Wirtschaftswunders verstanden, an der Konsumgesellschaft, auch wenn sich einer der Künstler, Gerhard Richter, davon distanzierte, er wollte die Ausstellung lediglich als „Ironie“ und keinesfalls als „Gesellschaftskritik“ verstanden wissen – Richter war aus Dresden nach Düsseldorf gekommen, der Titel war natürlich auch eine Parodie auf den dort real existierenden sozialistischen Realismus. In einem Band, der auf eine Ringvorlesung zurückgeht, die im Sommersemester 2009 in Wien gehalten wurde unter dem Titel „Kapitalistischer Realismus. Ethik, Ästhetik und Ökonomie in der Gesellschaft der Gegenwart“, wurde diese Aktion als paradigmatisch für die sog. „Künstlerkritik“ von Boltanski & Chiapello beschrieben, bezogen auf die Zeit – und den Geist – des Kapitalismus der industriellen Massenproduktion, dem sog. Fordismus zwischen 1930 und 1975. Dieser Kapitalismus versprach materiellen Wohlstand und Sicherheit, insbesondere eine Beteiligung an den deutlich gestiegenen Konsummöglichkeiten. Nun ist der springende Punkt in der Darstellung Boltanski & Chiapello, laut der Hg. Sighard Neckel und Monica Titton, dass die Antriebskräfte der „geistigen“ Veränderung des Kapitalismus nicht in den kapitalistischen Strukturen selbst zu verorten ist, sondern in jenen externen Kräften der Kritik, die gegen diese Strukturen gerichtet sind. Der Kapitalismus nimmt die an ihm geäußerte Kritik auf und integriert sie seinen eignen Zwecken. Er „endogenisiert“ Einsprüche und Alternativen, indem er sie zu inneren Elementen seines eignen Funktionierens macht. Es geht also über die „repressive Toleranz“, die Herbert Marcus beschrieben hat, hinaus, der Kapitalismus zeigt sich als flexibel, die Integration der Kritik öffnet neue Märkte, lässt Innovation und Organisationswandel entstehen usw. Heiner Müller hat immer mit einer gewissen Faszination das Motto der Deutschen Bank zitiert: „Aus Ideen werden Märkte“. Der „Künstlerkritik“ gegen die Entfremdung, die Standardisierung der Konsumwelt, die Langeweile und Spießigkeit setzen Boltanski & Chiapello die „Sozialkritik“ an der Ausbeutung entgegen. Die Pointe dieser Studie ist, kurz gesagt, dass 68 nun auch am Neoliberalismus schuld ist, v.a. Künstlerinnen und Künstler und ihre sogenannte ‚Künstlerkritik‘  werden dafür verantwortlich gemacht, dass die ‚Sozialkritik‘ an der Ausbeutung ausgehebelt wurde. So konnte das Kapital die ‚Künstlerkritik‘ für die neoliberale Offensive nutzen, um den Sozialstaat zu zerschlagen. Die Empörung gegen die Fremdbestimmung am Arbeitsplatz wurde also erhört und als „Eigenverantwortung“ in Form der Agenda 2010 und Hartz IV eingelöst. Somit wurde das sog. new management, das „neue projektbasierte Ausbeutungsregime“, zum Erben von 68: Es hat die Forderung nach Freiheit und Selbstverwirklichung in der Arbeitswelt realisiert – die doppelte Freiheit: frei vom Angestelltendasein und frei von sozialer Absicherung. Wenn man so will, ist Joseph Beuys an allem schuld, der verkündete, dass jeder Mensch ein Künstler sei und Kunst Kapital. Künstler sein aber heißt: Lebenskünstler sein, heißt: prekär leben. Schlecht daran ist, dass man so schwer gewerkschaftlich zu organisieren ist (wie schon vor vierzig Jahren Gilles Deleuze und erst kürzlich wieder Diedrich Diederichsen festgestellt haben). Wie soll man auch streiken, wenn man sein eigner Chef ist? Das wiederum ist keine rhetorische Frage, sondern eine sehr reale. Unsre Performances, in allen Facetten dieses Wortes, sind per se prekär, das macht sie so wertvoll, weil verwundbar. Avantgarde spielen muss heute niemand mehr, schon gar nicht als ein neuer Lenin des Prekariats, aber es wäre viel gewonnen, wenn wir unsre Kreativität, unsre kommunikativen Kompetenzen und Konzepte einsetzen würden, um eine Organisation, meinetwegen ein Netzwerk zu erfinden, das es den prekär Beschäftigten – es werden ja immer mehr – die Möglichkeit gibt, sich der totalen Verwertung des Lebens zu entziehen. Die Gewerkschaften können diese Rolle nicht für uns übernehmen und sollen das auch nicht: das ist der tiefere, der politische Sinn des Wortes ‚Performance‘: keine Stellvertreterpolitik, kein Im-Namen-von-Sprechen, keine Repräsentation, sondern: Autonomie. Wenn wir nicht der Meinung sind, dass zu viel Freiheit nicht gut für die Menschen ist, dann werden uns diese Mühen der Ebene nicht erspart bleiben. Das Problem ist nie zu viel, sondern immer zu wenig Freiheit: einer halbierten Freiheit, denn es geht nicht nur um die Freiheit von etwas, sondern zu etwas. Frei zu sein am kulturellen Leben teilzunehmen setzt soziale Sicherheit voraus, bedingungsloses Grundeinkommen, Existenzgeld usw.

Das war die historische Seite des kapitalistischen Realismus, die aktuellere hat der britische Musiktheoretiker und Gesellschaftskritiker Mark Fisher in seinem Buch „Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?“ beschrieben – wie er in seinem Vorwort betont, hat sein Buch nichts mit der Düsseldorfer Ausstellung zu tun, er bezieht sich auf Maggie Thatchers berüchtigtes Diktum: „There is no alternative.“ Zu ergänzen um das kategorische „alternativlos“ von Angie Merkel (mit dem bekannten Resultat, dass wir nun eine rechtspopulistische Partei mit dem Titel Alternative für Deutschland haben). Die Essenz dieses Realismus ist die Negation des Satzes von Che: „Seien wir realistisch, versuchen wir nicht das Unmögliche“ – es ist eine Art Realitätsprinzip, der die postdemokratische Gegenwart fest im Griff hat. Angesichts dieser nun schon über fünfzigjährigen wohlbekannten Geschichte des Konzepts des „kapitalistischen Realismus“ und seiner Aktualität durch die kürzlich erst erfolgte Übersetzung des einflussreichen Buches von Mark Fisher, nimmt es doch Wunder, dass vor kurzem ein gerade auch im Ausland sehr bekannter Berliner Theaterleiter und Regisseur beansprucht hat, diesen Begriff erfunden zu haben und zwar als abschätzige Bezeichnung für die Konkurrenz durch die Freie Szene. Sein Chefdramaturg hat ein ganzes Buch darüber geschrieben mit dem kühnen Titel „Kritik des Theaters“, das vorgibt, das gegenwärtige Theater kritisch zu durchleuchten, letztendlich aber lediglich von demselben Ressentiment geleitet ist wie der eher kurze Text seines Chefs. In diesem Buch schreibt er u.a. dass wir, die Freie Szene, uns ja gerne als Avantgarde betrachten würden, wir seien aber in seinen Augen nichts weiter als die „Avantgarde des postmodernen Kapitalismus“ – wir sind die Vorreiter des „neuen projektbasierten Ausbeutungsregimes“. Ich werde im Folgenden gar nicht erst beginnen, eine Kritik dieser kritischen Kritik zu üben, sondern ich möchte mich der Selbstkritik widmen und das von mir entwickelte Konzept des „Performerism“ zu hinterfragen. Letztendlich geht es mir dabei jedoch um die alte Frage: Was tun? Nun also wieder einen Schritt vor.
Was tun – eine Frage, die ihre Antwort schon enthält: das Tun, das wäre die Antwort: Was tun? Was tun! Das Tun, also bewusste, konkrete Tätigkeit. Performerismus ist genau das: bewusste, konkrete Tätigkeit, bzw. Performerismus ist es nicht, sondern tut es – eben darin besteht seine Bestimmung: Performerismus performt. Das ist keine Tautologie, sondern ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich, der performative Selbstwiderspruch par excellence: ein substantiviertes Verb, das darauf besteht, alle Substantive zu re-verbisieren: also ein Nennwort für ein Ding, ein Dingwort auf ein Tätigkeitswort zurück zu beziehen. Lenins Frage, was tun, wird beantwortet durch John L. Austin: How to do things with words? Auf Deutsch: Zur Theorie der Sprechakte. Wörtlichere Übersetzung: Was tun mit Worten. Dabei wird es mir genau darum gehen, dass man mit Worten eben keine Dinge tut oder macht, sondern darum, wie man durch Worte aus Dingen etwas macht, das gemacht ist, etwas Gemachtes, Getanes und zwar gesellschaftlich Getanes. Lenins what’s to be done wird nicht durch things beantwortet, sondern seine Frage durch diese performative Dimension erweitert – man könnte schließlich beide Titel vereinigen zu: How to get things done. Womit man mit Sicherheit in der Ratgeberecke gelandet wäre. Doch ist genau das to get things done der idiomatische Ausdruck dafür etwas zu schaffen, etwas fertig zu bringen und es ist eben dieses deutsche Wort, das Schaffen, das im Mittelpunkt meiner Überlegungen zum Konzept des Performerismus steht. Die Bezeichnung selbst war inspiriert durch den italienischen Operaismus, eine radikale Spielart des Marxismus aus dem Italien der 50er und 60er Jahre, etwas ungelenk, aber adäquat übersetzt als Arbeiter-ismus. Grundlage für diesen Arbeiter-ismus war eine strategische Umkehrung, die Mario Tronti zusammenfasste in dem Satz: „zuerst die Arbeiterklasse, dann das Kapital.“ Die Arbeit schafft erst das Kapital, das Kapital ist ein von der Arbeit geschaffenes, aber abgetrenntes Wesen, ein „mystisches Wesen“ wie es Marx genannt ein: ein Fetisch, ein Frankenstein. Nun zielt mein heutiger Einsatz darauf ab, dieses Konzept dahin gehend zu verändern, dass ich mich von der Figur des Arbeiters verabschieden möchte, nicht nur von der des traditionell männlichen Industriearbeiters, des fordistischen Massenarbeiters, auf den sich der Operaismo bezogen hat, sondern auch von der Figur der gesellschaftlichen Arbeiterin, die der Postoperaismus von Negri&Hardt, Bifo, Virno, Lazzarato&Co. im postfordistischen Zeitalter entdeckt hat. Ihnen zufolge haben die damals jungen, unorganisierten Arbeiterinnen und Arbeiter durch ihre Revolte gegen die Fabrikarbeit, die Mauern der Fabrik gesprengt, die sich daraufhin aufgelöst hat – in die Gesellschaft hinein, sie wurde zu einer ‚diffusen Fabrik‘, die ganze Gesellschaft ist zu einer Art Fabrik geworden, besonders die großen Städten, insbesondere die sog. creative cities. Diese Theorie ist inspiriert durch die feministische Kritik am alten Arbeiter-Subjekt, auf die Fixierung am alten Produktionsethos und hat durchgesetzt, auch Haus- und Heimarbeit als Arbeit anzuerkennen. Im Folgenden kam es zu einer ‚Feminisierung‘ der Arbeit, so dass Negri&Co. das Konzept der „immateriellen Arbeit“ entwickelt haben: intellektuelle, kognitive, aber auch affektive oder körperliche, sexuelle Arten des Arbeitens. Auf dieses Konzept hat sich mein Begriff des „Performerism“ bezogen, nun möchte ich aber vorschlagen, statt von Arbeitern und Arbeiterinnen von Schaffenden zu sprechen oder prägnanter, proletaroider  „Schaffern“ und „Schafferinnen“. Es ist nämlich gerade diese Bandbreite dieser Tätigkeit, die mich interessiert, die sowohl den körperlichen Einsatz, das Schaffen, auch gerade die Lohnarbeit, das Schaffen gehen, beinhaltet, als auch das erweiterte zielgerichtete Handeln, etwas zu schaffen – im Sinne von „wir schaffen das schon!“ oder „Puh, das wäre wieder mal geschafft“ bis hin zum kreativen, oft fast schon gottgleichen Akt des Erschaffens im Sinne von Schöpfung. Damit umfasst dieses Tätigkeitswort in paradigmatischer Weise den zentralen Widerspruch des Kapitalismus und zwar nicht nur des postfordistischen Kapitalismus, sondern von Anfang an, seit der von Marx beschriebenen ‚ursprünglichen Akkumulation‘ bis zum heutigen Tag – den Widerspruch, mehr noch: den Antagonismus, den lebendigen Widerstreit zwischen abstrakten Arbeit und konkreter Tätigkeit. Damit kehre ich zurück zu Marx, zu den sog. Jugend- oder Frühschriften, in den Marx diese Unterscheidung noch sehr genau im Blick hatte, nämlich zwischen dem, was er mit dem englischen Wort als labour bezeichnete als eine Art der entfremdeten, abstrakten Tätigkeit, die nur der Verwertung dient – ein oft auch körperlich schmerzhafter Prozess, wie er in der Verwendung dieses Wortes für die Wehen bei einem Geburtsvorgang bezeichnen, und work im Sinne einer nützlichen Tätigkeit. Dieser Unterschied ist – laut Marx – der ‚Doppelcharakter der Arbeit‘. Und dieser ‚Doppelcharakter der Arbeit‘ sei der Springpunkt seiner Analyse. In späteren Schriften hat er selbst diesen ‚Doppelcharakter‘ aus dem Blick verloren, v.a. im Kapital beschreibt er die Entstehung des Kapitals aus der Perspektive der abstrakten Arbeit, konzentriert sich seine Analyse auf den Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital. Aber vor diesem Widerspruch liegt der Widerspruch zwischen abstrakter Arbeit und konkreter-schöpferischer Tätigkeit, bzw. ist der springende Punkt eben, dass dieser Widerspruch dem anderen eben nicht zeitlich vorgelagert ist, sondern weiterhin erhalten bleibt: er wird eben nicht dialektisch aufgehoben in der dreifachen Bedeutung des Wortes, wie Hegel das beschrieben hat, sondern wirkt fort: darin, dagegen, darüber hinaus. Es gibt da keine zeitliche Entwicklung. Das gilt für den Kapitalismus als solchen: Ebenso schmerzhaft wie ein Geburtsvorgang war die sog. ‚ursprüngliche Akkumulation‘, in der – wie Marx schreibt – der Kapitalismus aus allen Poren schmutztriefend und blutig auf die Welt gekommen ist, oder, wie man besser sagen sollte: über die Welt gekommen ist. Die Gewalt bestand oftmals als Gewalt der Enteignung, etwa der Einhegung von früher gemeinschaftlich genutzten Weideland und der Umnutzung als Weideplätze für Schafe zur Wollproduktion in den ersten Textilfabriken, sie findet aber bis heute statt, nicht nur in der fortgesetzten Vertreibung von Kleinbauern von ihrem Land oder der Enteignung von gemeinschaftlichem Wissen, etwa der Patentierung bestimmter Praktiken, bis hin zur Patentierung von Nutzpflanzen, Gencodes etc. oder der Privatisierung natürlicher Ressourcen wie Wasserversorgung, sondern diese andauernde fortgesetzte sog. ‚ursprüngliche Akkumulation‘ findet immer wieder da statt, wo eine konkrete Tätigkeit – wie etwa Kuchenbacken, aber auch Wissen zu vermitteln oder gemeinsam über Performerism nachzudenken, andrer Leute Kinder großziehen oder Eltern pflegen oder auch sexuelle Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen – in abstrakte Arbeit verwandelt wird, indem also vom Inhalt dieser Tätigkeiten abgesehen wird, indem ihr Bezug zum Leben, zur lebendigen Situation, in der sie stattfindet, abgesehen wird, von ihrer konkreten Beschaffenheit, ihren Eigenschaften, der Qualität, um sie zu quantifizieren, also vergleichbar zu machen mit einem allgemeinen Maßstab, der im Kapitalismus sich eben an einer gesellschaftlich durchschnittlichen Arbeitszeit bemisst, um einen Wert zu ermitteln, einen Preis festzusetzen. Dieser Vorgang des Abstrahierens, des Absehens oder Abziehens des konkreten Inhalts einer Tätigkeit, um ihn in eine Form zu pressen, die Wertform, die sich als Geldform darstellen lässt, ist die strukturelle Gewalt einer fortgesetzten, kontinuierlichen ‚ursprünglichen Akkumulation‘. Dieser Prozess – und das ist zentral – setzt sich nicht einfach fort, sondern muss aktiv fortgesetzt werden und zwar von uns selbst. In seinem Buch „Kapitalismus aufbrechen“ hat John Holloway deswegen vorgeschlagen, diesen Prozess der fortgesetzten ‚ursprünglichen Akkumulation‘ nicht als ein in der Vergangenheit liegendes Ereignis zu betrachten (im Sinne des vielen Wassers, das den Fluss herabgeflossen ist), sondern als lebendigen Antagonismus, also als Quelle. Er spricht – um im Bild zu bleiben – auch von einem Fluss des Tuns, des gemeinschaftlichen Tuns, sogar einem Chor des Tuns. Im Kapitalismus kann sich unser Tun, der gesellschaftliche Prozess des Produzierens, nur in Form von Produkten aufeinander beziehen, die von den einzelnen Produzenten abgetrennt ist. Die „Entfremdung“ besteht in der Abstrahierung der Arbeit, die verhindert, dass unsre Arten des Tuns ineinander fließen können. Stattdessen werden wir von den Produkten unsrer Arbeit und voneinander getrennt, werden wir ihnen und einander fremd. Insofern bleibt die Kritik der „Entfremdung“, die Boltanski & Chiapello als „Künstlerkritik“ bezeichnet haben, zentral, ja, gibt es diesen Widerspruch zur „Sozialkritik“ nicht. Der springende Punkt ist, dass wir diese „Entfremdung“ als einen kontinuierlichen Prozess verstehen müssen, der unsrer Kollaboration bedarf. Mary Shelley‘s Kreatur Frankenstein ist insofern kein gutes Bild für den Fetischcharakter der Ware, sondern eine Geschichte von Borges, in der ein Mensch ein Wesen erschafft durch seine Träume: dieses Wesen existiert also nicht abgetrennt von dem Träumer, sondern wird Nacht für Nacht weiter von diesem erträumt. Oder wie Max Horkheimer geschrieben hat: „Die Menschen erneuern durch ihre eigne Arbeit eine Realität, die sie in steigendem Maße versklavt.“ Seien wir realistisch – wir erzeugen, wir erschaffen diese Realität, die kapitalistische Realität, die Realität des Kapitals. Sie wird von uns durch unsre Tätigkeit, unsre in Arbeit verwandelte Tätigkeit erst erschaffen. Das heißt aber auch: Unsre Tätigkeit, unser Tun kommt zu erst. Das heißt auch: Wenn wir das Kapital erschaffen, können wir es auch abschaffen. Wir können aufhören, den Kapitalismus zu schaffen. Denn der lebendige Antagonismus zwischen abstrakter Arbeit und konkret-schöpferischer Tätigkeit bedarf der Performance, einer performativen Iteration wie es Judith Butler für die Herstellung von Geschlechternormen beschrieben hat, ein Tun: doing gender. Und folglich möglicherweise auch ein: undoing. Es wäre also Zeit, das deutsche Wort Untat nicht länger als moralisch besetztes Substantiv zu benutzen, sondern in ein positiv konnotiertes Verb zu verwandeln: das un-tun. Was tun? Kapitalismus untun.

Die bisherige Kapitalismuskritik, gerade in der marxistischen Tradition, hat sich jedoch vor allem auf den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit konzentriert und dabei die Herrschaft der abstrakten Arbeit abgesichert – von „labour“ (wie man auf Englisch auch die Arbeiterbewegung bezeichnet – heute lediglich eine Partei, die damit eigentlich nichts mehr zu tun haben will). Das trifft auch noch auf den Operaismo und selbst auf den Postoperaismus zu – stattdessen sollte die strategische Umkehrung heute lauten: „Schöpferische Tätigkeit zuerst, dann die Arbeit!“ Befreiung der Arbeit kann also nur Befreiung von der Arbeit heißen. Oder wie Marx in einem Brief an Engels schrieb: „Die Arbeit ist frei in allen zivilisierten Ländern; es handelt sich nicht darum, die Arbeit zu befreien, sondern sie aufzuheben.“ Mein Vorschlag für das transeuropa Festival in Hildesheim ist deswegen, in den Titel – auch wenn er bisher nur ein „Arbeitstitel“ ist – : „Wie wollen wir arbeiten?“ zumindest eine Klammer um das Wie zu setzen. Sollen wir das, was wir da tun, wenn wir auf die Bühne gehen, wirklich Arbeit nennen? Vielleicht ist es am wichtigsten, sich darauf zu besinnen, was der Arbeit vorausgeht. Wie Marx geschrieben hat, unterscheidet sich die menschliche Tätigkeit von der tierischen dadurch, dass die Menschen vorher eine Vorstellung davon entwickeln, was sie schaffen wollen. Und genau um diese Vorstellungskraft ist es durch den herrschenden kapitalistischen Realismus schlecht bestellt. Wie der anarchistische Anthropologe David Graeber gezeigt hat, galt im Mittelalter und der Antike die „Fantasie“ oder „Vorstellungskraft“ als Übergangsbereich zwischen der Realität und dem Verstand. Wahrnehmungen aus der materiellen Welt mussten zunächst die Imagination passieren, wobei sie emotional aufgeladen wurden und sich mit allen möglichen Formen von Phantasien mischten. Erst dann konnte der Verstand ihre Bedeutung erfassen. Erst seit Descartes hat sich die Bewegung umgekehrt: Erst seitdem nahm das Wort „imaginär“ schließlich die Bedeutung an, „alles, was nicht real ist“. Descartes ist der Vater des kapitalistischen Realismus! Was wir gesellschaftlich brauchen ist – laut Graeber – eine „Reimaginierung“ – um Alternativen zum Bestehenden zu entwickeln. Der Realismus wird Performerism: eine Anrufung oder self-fulfilling prophecy, wie Oliver Marchart das in Bezug auf das Prekariat beschrieben hat. Magie, würde es Graeber nennen: Magie ist das Heilmittel gegen den herrschenden Fetischismus. Denn Magie glaubt an die Wirksamkeit gesellschaftlichen Handelns. Die Zukunft gehört der Verbindung von Marxismus und Magie. Worum es in der Kunst geht, ist mit anderen Formen von Wert zu experimentieren. Denn im Angesicht der Krise haben bislang allein die Vorstellungen Konjunktur, die zurück wollen: zum National- und Sozialstaat, zum Keynesianismus, zur Vollbeschäftigung usw. Als ob wir Angst hätten, uns etwas Neues auszudenken. Es gilt die Parole von Brecht & Benjamin: Lieber das schlechte Neue als das gute Alte. In diesem Sinne: Seien wir realistisch!

Autor

Alexander Karschnia

Veröffentlicht

2015-02-01