Wie Lenin einmal einen Stromschlag erhielt

Marianne Strauhs, nachtkritik, 2007-09-29

Was auf den ersten Blick wie eine seltsam anmutende Beleuchtungsabteilung eines Möbelhauses wirkt, entpuppt sich auf den zweiten als Spielwiese für Licht, Ton und Bewegung. Sieben verschieden geformte kleine Gerüste, jedes mit einer überdimensionalen Glühbirne und einem Lesepult ausgestattet, bilden das nötige Equipment für einen Abend aus kommunistischen Fakten und Fiktionen.

Die sieben Performer (Bini Adamczak, Noah Fischer, Alexander Karschnia, Vettka Kirillova, Nicola Nord, Sascha Sulimma, Serjoscha Wiemer & Co.) nehmen in Star-Trek-ähnlicher Kostümierung (violette Hemden mit Glitzerstreifen und weißem Schuhwerk) Position ein. Man befindet sich im Dom im Berg, einem Veranstaltungsraum, der direkt in den Felsen des Grazer Schlossbergs gehauen wurde.

Zeitreise in die Möglichkeit

Black. Ein Pappkreis mit Schnurrbart und Augen aus Glühlampen spricht als president of the US zum Publikum. Er wirkt in seiner Kleinheit wie ein lächerlicher Vollmond, der über den Akteuren schwebt. Während seiner Rede, in der er sich um den little man sorgt, blinken sämtliche Glühlampen an ihm und um ihn. Durch den manuellen Stroboskopeffekt ein rasanter Einstieg in den Abend.

Black. Ausgehend vom Jahr 1957, in dem die Sowjetunion den ersten Sputnik in den Weltraum schoss, wird hier die Utopie eines möglichen kommunistischen Systems der heutigen (unsrigen) Gegenwart erzählt. Die Teilnehmer dieser Zeitreise (die Temponauten) begeben sich in die Irrealis. Temponauten dürfen in der Vergangenheit nichts verändern, das die Zukunft beeinflussen könnte. Sie begeben sich in einen Raum, der nur in der Möglichkeit besteht (die Irrealis), und behaupten ihn kurzerhand als eventuell irgendwo gegeben: als Utopie.

Doch den folgenden Fiktionen geht ein Fakt voran: nuclear freeze. Als nun der erste Sputnik die Erde umkreiste und Wellen zu eben dieser sendete, bekamen es die USA mit der Angst zu tun. Denn wenn die Sowjetunion in der Lage war einen "Begleiter" ins All zu schießen, war sie sicher auch in der Lage eine Nuklearwaffe gen USA zu steuern. Oder?

Radeln für Lenin und die Lampen
"Time Republic" versteht sich als Weiterentwicklung früherer Arbeiten der Gruppe andcompany&Co. Nicola Nord & Co. arbeiteten schon in mehreren Bühnenwerken ("Archive for Utopias, Lost and Found","little red (play) – herstory") mit der verloren gegangenen Utopie des Kommunismus. Eine Figur dieser Arbeiten ist Little red, die die DDR in ihrer Kindheit und Jugend vom Westen aus miterlebte. Little red versteht sich auch als das Künstler-alter ego Nords. Bei "Time Republic" wird der Charakter weitergesponnen und es gibt nun auch Little blue.

Wie gesagt: Black, und langsam wird es wieder hell. Die Performer setzen zu einer Art Rap an. "Everybody is talking about … communism, socialism, Irak, Iran, etc." (Von fern fühlt man sich an Billy Joel und "We didn’t start the fire" erinnert.) Doch hier ist endgültig Schluss mit Intro.

"Als Lenin klein war …" ist der eigentliche Einstieg in den Abend. Anhand Lenins (angenommenen) Träumen, die er als Kind (eventuell) hatte, wird die Idee des Kommunismus sowie die "zufällige" Geburt des Sputniks beschrieben. Zum einen wird von einen Stromschlag erzählt, den Lenin als Kind erlitt und den er als Impfung mit power verstand. (Eine der Performerinnen sitzt dabei auf einem Fitnessrad und tritt in die Pedale, als ob sie damit den notwendigen Strom für die Glühbirnen erzeugen würde.) Zum anderen geht es um seine Hündin Laika. Laika, die später mit Sputnik III ins All flog, wird als ganz besonderer Hund dargestellt. Und zwar als einer, der zwar nur drei Beine hatte, aber wie ein Luftballon schweben konnte.

Pracht, Solidität, Ratlosigkeit

"Do it! Do it! Do it!" Wie in einer Gameshow wird die Angst der USA vor der Sowjetunion in einem Text ausgedrückt, der wie unter Zeitdruck von einem immer anderen Performer wiederholt wird. Als Unterbrechung ertönt das gemeinsame "Do it!", welches zum musikalischen Refrain aus Minischlagzeug und Minigeschrei wird.

Immer wieder agieren die Temponauten als Kosmonauten bei einer Trainingseinheit. "Start position!", "Run in place!","Grab your rockets" etc. Und bei diesem Training wird die Idee des Kommunismus hochgehalten: "No first, no last. Running in place is an example to the community!"

Re-mix und Re-animation werden von dem Künstlerkollektiv als wichtige Elemente der Arbeit angegeben. So wiederholen sich die einzelnen Geschichten refrainartig. Wie ein Running Gag ("Run in place") ziehen sich einzelne Versatzstücke durch das Stück. Was zuerst wie ein Feuerwerk an Ideen wirkt, verliert durch die Wiederholung an Spannung. Ein prachtvoller Einstieg, ein solider Mittelteil und ein absehbares, herbeigesehntes, ratlos zurücklassendes Ende. Aber vielleicht ist genau das das Schicksal des Kommunismus.
 

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Tränen vom Mann im Mond

Valeska von Dolega, Westdeutsche Zeitung, 2007-10-13

Mit „Time Republic“ setzt das Theater die Reihe „Geschichten für ein neues Jahrtausend“ fort – und zeigt keine leichte Kost. Kosmonauten oder Temponauten? Die Andcompany ging im FFT auf Zeit- und Weltraumreise.

Es war ein Piepen, das die Welt erschütterte. Gesendet hatte ihn ein künstlicher Weggefährte der Erde, auf russisch „Sputnik“ genannt, aus dem All. Die Welt staunte, für die Russen war es ein triumphaler Erfolg und für die Amerikaner ein Schock. Diese Schmach, im Orbit bloß zweiter Sieger zu sein, verschärfte damals den Kalten Krieg und inspirierte jetzt Andcompany & Co. zu der Theatercollage „Time Republic“. Anlässlich der Reihe „Geschichten für das neue Jahrhundert“ geht das Künstlerkollektiv auf Zeitreise. Und wie es sich für Performer gehört, wird nicht einfach Text aufgesagt, sondern in nicht klar definierten Rollen gespielt, musiziert, Krach gemacht und Licht an- und ausgeknipst. Grundlage für ihre bei der Premiere beklatschte Vorstellung sind Zeitzeugendokumente, die belegen, wie weitläufig der Begriff „Wahn“ zu fassen ist. Aber nicht nur Besprechungen im Weißen Haus während der Kuba-Krise oder Nikita Chruschtschows Erinnerungen werden da verlesen. In sehr eigenen Worten erzählen die sieben Performer als Enkelin Little Blue Lenins Geschichte. Der ging erst gar nicht an die Uni, sondern wurde direkt Revolutionär. Mit seiner dreibeinigen Hündin Laika, die wie beim Spaziergang ballonartig über ihm schwebt und deren Gekläffe wie Sternengesang klingt, will er die Zeit erobern. Und während er ihr ein viertes Bein anklebt, trifft er auf sieben Kosmonauten, die zu Temponauten werden. Doch die Temponauten, gekleidet in Oberteile, die direkt aus dem Fundus der „Raumpatrouille Orion“ zu stammen scheinen, verwandeln sich nicht bloß in windschnittige Raketen, sie müssen später als Weltraumschrott überleben. Dazwischen gibt es körperliche Ertüchtigung in der durch Rohrskulpturen zur Raumstation verwandelten Bühne, milden Gesang, überdimensionierte Cowboy-Hüte und viele durch flackerndes Licht unterstrichene Turbulenzen. Wenn der gesampelte Ronald Reagan seine Rede zum Columbia-Unglück hält, schreit sogar der Mann im Mond und weint dazu silbrige Konfettitränen. Das ist keine leichte Kost, aber eine durchaus spannende Einlassung.
 

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Zurück in die Zukunft

Markus Küper, Westfälische Nachrichten, 2007-10-28

Münster. Wir schreiben das Jahr 1957. Ein Piepen erschüttert die Welt. Gesendet von einem kleinen künstlichen Weggefährten der Erde, auf Russisch „Sputnik“ genannt. Mit riesigen Cowboyhüten und jeder Menge explosivem Fiction-Trash bewaffnet, machen sich nun sieben Temponauten auf, die Geschichte zurückzudrehen. Ihr Weg führt zurück in die Zukunft. Weil gestern Heute noch Morgen war und der Kalte Krieg noch eine böse Ahnung.
Weil sie auf ihrer Suche nach positiven Zukunftsentwürfen in der Gegenwart nicht fündig werden, erforschen „andcompany & Co.“ die Utopien der Vergangenheit. Das war schon in „Little Red: Herstory“, ihrer cool designten Zeitreise durch die gescheiterten Visionen des Kommunismus so. Und es ist bei „Time Republic“, diesem zeitgemäß zerfaserten Ideologie-Jogging zurück in den Orbit des Kalten Krieges, so. Auch diesmal geht es um die vergessenen Versprechen einer vergangenen Zukunft. Erneut werden jede Menge Fakten und Fiktionen durch den retro-futuristischen Raum gebeamt, dass sich die Pumpenhaus-Bühne krümmt. Und sogar die planetaren Kugelhelme blinken wieder im Takt der ein- und ausgeknipsten Glühbirnen, mit denen sich das Ensemble von einem Zeitzeugendokument zum nächsten sprachmusikalischen Nuklear-Brainstorming buzzert.
Fiktive Besprechungen im Weißen Haus werden da verlesen oder Chruschtschows Erinnerungen. In sehr eigenen Worten erzählen die sieben Performer die Geschichte von Lenin und seiner dreibeinigen Hündin Leika, die beim Gassigehen ballonartig über ihm schwebt und deren Gekläffe wie Sternengesang klingt: Leika in the Sky with Diamonds!
In ihrem politischen Panoptikum aus tanzenden Atomraketen und singenden Kosmonauten schauen sich Kennedy und Yoko Ono, Nixon und Elvis gegenseitig in die Logbücher. Und wenn der gesampelte Ronald Reagan gar seine Rede zum Columbia-Unglück hält, flennt sogar der Mann im Mond silbrige Konfettitränen. Spätestens unter dem discobunten Schein des Lichtorgel-Sputniks aber wird die Raum- und Zeitreise zur artistischen Sprachmusik. Natürlich bleibt auch von dieser „nur“ ein Piepen. Aber immerhin klingt das so schräg wie die sich spiralförmig in den Bühnenhimmel schraubenden Kugellampen leuchten.
Fiktive Besprechungen im Weißen Haus werden da verlesen oder Chruschtschows Erinnerungen. In sehr eigenen Worten erzählen die sieben Performer die Geschichte von Lenin und seiner dreibeinigen Hündin Leika, die beim Gassigehen ballonartig über ihm schwebt und deren Gekläffe wie Sternengesang klingt: Leika in the Sky with Diamonds!
 

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Archivare im kosmischen Fundbüro

Marcus Droß, herbst. Theorie zur Praxis, Magazin zum steirischen herbst 07, 2007-09-01

Der Kommunismus ist tot, das weiß seit 1989 jeder. Aber kann ein Gespenst überhaupt sterben? Das internationale Performance-Kollektiv andcompany&Co. hat in der alten wie in der neuen Welt, im Weltraum und im Irrealis recherchiert – und antwortet mit einem entschiedenen Nein. So wird in den eigenen Bühnenstücken der Utopie ein Refugium gebaut, von der russischen Avantgarde über Sputnik-Träumen zu John-Lennon-Chats.

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TEMPONAUTEN-THEATER

Alexander Karschnia, Berliner Gazette, 2007-11-11

Es wird Zeit, dass es Zeit wird

>Wenn alles unter Kontrolle ist, fahren Sie noch nicht schnell genug.< Das ist der Sound des Neoliberalismus. Klingt mitunter ganz witzig, wie Lenin auf Speed. Dennoch – seit Jahren beherrscht mich ein merkwuerdiges Gefuehl der Zeitlosigkeit. Als ob der Globalisierungs-Countdown nach 1989 ins Leere gelaufen sei. Vielleicht ist auch eine Schallmauer durchbrochen worden und wir befinden uns im freien Fall nach oben. Eigentlich herrscht nur in den Metropolen rasender Stillstand, waehrend die Walze der Weltwirtschaft durch die Peripherie mahlt.

Man wird das Gefuehl nicht los, man muesse noch mal zurueck ins Jahr 2000 – haben wir nicht irgendetwas Wichtiges vergessen? Vielleicht ist es auch eine globale Depression, die eingesetzt hat, nachdem man sich ein ganzes Jahrhundert auf das neue Jahrtausend gefreut hatte. Wenigestens die Atomwaffen haette man ja abschaffen koennen – hatten uns das nicht Gorbatschow und Reagan einmal versprochen? So jedenfalls werden wir die Gespenster des 20. Jahrhunderts nicht los… Ausserdem: Wie killt man eine digitale Uhr? Das sind Fragen, die mich zur Zeit umtreiben – denn: Zeit ist Frist!

Collaborations mit US-Amis verstaerken das Abendlandgefuehl, da kommt man sich schnell ganz alt-europaeisch vor: Was wir schon alles hinter uns haben, wenn die gerade erst aufstehen… Instant Jet-Lag! Ich liebe Telefonlaeden, in denen verschiedene Weltzeituhren haengen, mein Bildschirmschoner ist eine Zeitzonenkarte. Die Zeitzone hat eine grosse Zukunft vor sich, Sonderzeitzonen werden noch eine bedeutende Rolle spielen – als Ausnahmezustaende und ausgesonderte Wirtschaftsbereiche. Wenn es ein Versprechen der historischen Avantgarde gibt, das nicht aufgebraucht ist zu Beginn des neuen Milleniums, dann ist es die Entdeckung dieses neuen Kontinents: der Zeit. >Wehe, schwarze Fahne der Zeit!< [Velimir Chlebnikov, erster Praesident des Erdballs, 1920]

Fuer unsere Arbeit ist die Chat-Kommunikation aeusserst wichtig, Protokolle von Geistergespraechen mit Zeitleisten. Diese Form des schreibenden Sprechens hat ja eine natuerliche Naehe zum Theater. So ist auch der Titel fuer unser erstes &Co.LAB mit dem bildenden Kuenstler Noah Fischer entstanden: >Revolutionary Timing<. Mir ist erst durch die Lektuere von Lenins April-Thesen die Bedeutung des Timings klar geworden. Dabei muss hinzugefuegt werden, dass es in unsrer Arbeit den Streit zweier Linien gibt: einer beschleunigenden, eher Leninschen Typs und einer verlangsamenden, eher Maoschen Typs: >Lieber eine sozialistische Verspaetung als kapitalistische Puenktlichkeit!< Das ist das Ethos unsrer Ko-Autorin und Mitperformerin Bini Adamczak. In ihren Augen ist die Arbeit im Theater purer Fruehkapitalismus. Und das stimmt ja auch. Zeit ist Frist – bis zur Premiere. Kein Stress, kein Spass…

>Time Republic< ist der zweite Teil unsrer Kommunismus-Trilogie, die wir mit dem Stueck >little red [play]: herstory< begonnen haben: Die Geschichte einer jungen Pionierin, die aus dem Westen stammt und im Sommer immer ins Kinderferienlager in die DDR gefahren ist wie Alice ins Wonderland statt in die Toskana wie ihre Schulfreundinnen. Nun sehnt sie sich ins Jahr 2000 zurueck, zu dem sie sich mit ihren Ost-Freunden am Alex an der Weltzeituhr verabredet hatte. Dieses Mal kruemmt sich die Raumzeit, little red trifft little blue aus der SU, Lenin lebt, John Lennon stirbt…

Uns interessiert die Figur der Temponauten, der Zeitfahrerinnen. Bei uns geht es immer um einen historischen Re-Mix, diesmal mixen wir Sputnik-Schock, Kuba-Krise, Mondlandung, die Ermordung John Lennons und die Aufloesung der Sowjetunion mit den alten futuristischen Fantasien der 10er und 20er Jahre: Es geht um den Aufbruch der Menschheit in den Weltraum, den Ausbruch aus der raeumlichen Beschraenkung. Ausschlaggebend war die Bemerkung Derridas nach seiner Rueckkehr aus Moskau 1990, das Utopische an der UdSSR sei ihr Name gewesen, da er keine Referenz auf ein reales Territorium in sich trage. Das korrespondiert mit den Forderungen Chlebnikows, der den ersten Zeitstaat ausgerufen hatte: >Raumstaaten erzittert!< Vielleicht hat die Zeitrepublik ja schon laengst begonnen…

Die Reihe >Telling Time< in den Sophiensaelen verstehen wir als Chance, fuer 74 Minuten eine Zeitrepublik auf der Buehne zu errichten, eine Sonderzeitzone. Erzaehlen heisst aufschieben, das Ende – den Tod – aufzuschieben. Diese Funktion hat schon seit geraumer Zeit eine besondere Klasse uebernommen, die kreative Klasse oder wie auch immer man sie nennen will. Wir traeumen von einem Theater, in dem das Publikum zum Ko-Narrator wird, in dem die Geschichten, weil sie offen bleiben, weitergehen. Die Zeit ist aus den Fugen, doch wir sind nicht gekommen, sie wieder einzurenken. Erst wenn man Arbeit in Herzschlaegen misst – und nicht in abstrakter Zeit – werden wir wissen, was das ist: Kommunismus. Das oder ein kollektiver Infarkt als Fortschrittstat. Zeit, zu enden…

Alexander Karschnia

Berliner Gazette