Der Tagesspiegel

Jan Oberländer, Der Tagesspiegel, 2006-10-13

Little Red, so heißt das Mädchen mit dem riesigen roten Kugelhelm. Little Red rennt auf der Stelle, sie rennt aus der Zeit heraus, so schnell, dass ihr Plastikvisier beschlägt. Ihr Ziel ist eine Vergangenheit, wo die Zukunft noch Versprechen, der Kommunismus eine Hoffnung war – oder das kapitalistische Gegenteil: „I want to live in a Donald Duck republic!“ Hinter der „Temponautin“ aus dem Stück „Little Red (Play)“ verbirgt sich die Performerin Nicola Nord, die mit ihrer Gruppe andcompany&Co. beim 3. „Freischwimmer-Festival“ in den Sophiensälen gastiert. Nords cool designtes, inhaltlich zerfasertes Ideologie-Jogging bringt das Motto des Festivals auf den Punkt: „Zurück“. Weil sie auf ihrer Suche nach positiven Zukunftsentwürfen in der Gegenwart nicht fündig wurden, erforschen junge Theaterformationen die Utopien der Vergangenheit – und was heute noch von ihnen übrig ist.

Der Tagesspiegel

Über falsche Utopien

Max Florian Kühlem, RP ONLINE, 2006-11-10

Dokumentarisch und politisch – die ersten Inszenierungen des Festivals „Freischwimmer“ für junges Theater im FFT-Juta: „little red (play): ‚herstory’“ und „Plutos – Gott des Geldes“.

Wenn die ersten Bilder der ersten Inszenierung des Festivals „Freischwimmer“ für junges Theater zu fließen beginnen, wähnt man sich in einem surealen Spielzeugland. Zum Fahrstuhlmusik-Gedudel hüpfen und laufen in „little red (play): ‚herstory’ Männchen mit großen roten Köpfen auf und ab, aus dem Boden wachsen Schriftzüge, Uhren laufen vor- und rückwärts. Kaum zu glauben dass dieses Theater so ungemein viel mit unserer Wirklichkeit zu tun hat. Thema des diesjährigen, bereits zum dritten Mal auch im Forum Freies Theater stattfindenden Festivals ist die Beschäftigung mit dem falschen Versprechen eines immer währenden Fortschritts. Die Truppe um die Düsseldorfer Performerin Nicola Nord suchte sich dazu eine unerfüllte Utopie der Vergangenheit und erfüllt mit ihrem Stück quasi einen dokumentarischen, gesellschaftspolitischen Auftrag: Das Ensemble sprach mit überzeugten Kommunisten über die Vergangenheit und stieß dabei auf eine Gegenwart, in der es scheinbar keine Zukunft mehr gibt. Auf der Bühne verkörpert Nord diese illusionslosen Interviewpartner durch die Figur des „little Red“, dessen Utopien von einem sozialistischen System im Hier und Jetzt keinen Ort mehr haben, und der deshalb unablässig versucht, gegen die Zeit anzurennen.

Aus Fakten und Fiktionen kreiert das Ensemble ein abwechslungsreiches Spiel zwischen Tanz-, Musik- und Sprechtheater. Aussagen aus den Interviews vermischen sich mit Zitaten von Karl Marx, bis Walter Benjamin oder den Verhören aus der Zeit der amerikanischen Kommunistenjagd der McCarthy-Ära.

Immer wieder stellt das Ensemble spielerisch eine Verhörsituation dar, spricht über die DDR, die Revolution, Religion und Propaganda.

„Wo fängt Propaganda an? Damit, dass man Schülern eine andere Welt entwirft?“ Ähnlich wie die berühmte britische Performancegruppe Forced Entertainment das in ihrem Spiel „Quizoola“ tut, erzeugen Nord und Co. damit Ambivalenzen, die den Zuschauer zu einer Stellungname zwingen. Ungemein spannend und anregend.(…)

RP ONLINE

Rotkäppchen und der Wolf (Biermann)

Daniele Muscionico, Neue Züricher Zeitung, 2006-11-06

Zum Abschluss von «Freischwimmer»

Vier koproduzierende Bühnen, zehn Aufführungstage, sechs Inszenierungen: «Freischwimmer», die Plattform für junges Theater, hat an der Gessnerallee einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Die vielversprechendste Hinterlassenschaft trägt den Namen Nicola Nord. Die Theatermacherin und Performerin hat mit bildenden Künstlern einen Wurf realisiert.

Rotkäppchen ist eine sozialistische Pionierin, und weil der Kommunismus am Ende der Geschichte ist, erzählt das Käppchen die Geschichte neu, von vorne nach hinten dieses Mal. Der Abend heisst «Little red (play): ‹Herstory›» und bringt die letzten grossen Utopien des 20. Jahrhunderts in eine derart vollendete Form, für die Bühnenschaffende an grossen Häusern üblicherweise ihren Ausstattungsetat überziehen – und im Feuilleton jubelnde Kritiken kassieren.

In der Gessnerallee spielte das Kollektiv Nicola Nord & Co. vor einem sehr jungen, sehr begeisterten Publikum, das (noch) keine öffentliche Stimme hat: Studierende an Zürcher Hochschulen (welche die Dramaturgin Anja Dirks anlässlich von «Freischwimmer» mit einem Kolloquium ans Theater herangeführt hat) sowie Anhänger der an Heiner Müller und Genossen geschulten beteiligten Künstler aus Amsterdam, New York und Düsseldorf. Die Mitwirkenden in Sachen Lichtdesign, Sound und Bühneninstallation lassen sich altruistisch in die Formel «& Co.» zusammenfassen und stellen sich gesammelt hinter die Federführende: die deutsche Theatermacherin, Performerin und Sängerin Nicola Nord. Aus der Zusammenarbeit entstand ein bemerkenswert intelligentes, synästhetisches Stück Utopie, das derart auf den Punkt gebracht ist, dass es auf der Rangliste des diesjährigen Nachwuchsfestivals ohne Frage und Konkurrenz Platz eins verdient hat.

Neue Züricher Zeitung

SPIELART: andcompany&Co.: Little Red "Herstory"

Stefan Strasser, muenchenblogger, 2007-11-30

Vier Performer auf der Bühne des Carl-Orff-Saals im Gasteig erzählen „Herstory“. Das Märchen von „Little Red“, einem Mädchen mit einem roten Kugelhelm; Rothelmchen, das sich sämtliche sozialistische Ideologien und Utopien des 20. Jahrhunderts in einem Zeitlauf vergegenwärtigt und verzweifelt versucht gegen ein sinnentleertes Jetzt anzulaufen.

Die Performer um Nicola Nord von andcompany&Co stellen ihre Fragen zur Geschichte der sozialistisch motivierten Revolten kurz und poppig, geben Ja/Nein Antworten und schieben dem Ganzen Zitate von Walter Benjamin und Karl Marx unter. Die Wortcollage, die das Prädikat „sophisticated“ verdient, wird visuell mit An/Aus- Lichteffekten und akustisch mit Lounge-Elektro und John Lennon Songs untermalt. Buchstaben-Stellwände mit thematisch passenden Kürzeln und Schlagworten zieren die ansonsten karge Bühne.

Die Performance lebt durch ihre wortreiche Schnelligkeit, die vor allem in den ad absurdum getriebenen Chatroom-Diskussionen über Lennon und die böse Welt zum Ausdruck kommt. Spielerisch wird über alles Mögliche und Nichts verhandelt; über Ideologien, an die längst keiner mehr glauben will, die letztendlich im Spielzeugpistolen-Gefecht untergehen, um sich schließlich in John Lennons Hippie-Schnulze "Make Love Not War" vollends zu verlieren.

muenchenblogger

THE HERALD, Glasgow

MARY BRENNAN, THE HERALD, Glasgow, 2009-04-27

All manner of politics and ideologies have been percolating through this Arches Behaviour programme, with issues of gender and racism well-served and intelligently probed by Nic Green and Ann Liv Young especially. This final production, by German andcompany&Co, muses on communism past, present and future. Nicola Nord and her associates are curious about the fabric – real or imagined -of Utopian states and the aftermath of radical political change, and keen to explore how one nation’s vision of an ideally functioning society is seen as a destabilising threat by another. The McCarthy era sequence in which Walt Disney is grilled about the presence, and influence, of communists in Hollywood borders on farce – except the sheer blinkered banality of the questions is chilling, the "yes" or "no" inflexibility of the answers ensuring the hearing’s foregone conclusion that communism is the Enemy of the United States.

Elsewhere, this docu-fable plays a clever cat-and-mouse game with time shifts and historical perspectives, allowing a space-helmeted Little Red to travel back from a distant future to kickstart activist debates which swiftly
descend into youthful wrangles about personal heroes (John Lennon looms large) and conflicting beliefs. The mix of music, text – some in German – and an alphabet set that deconstructs into monolothic words that then "spread communism" across the stage (before shrinking back) works well, if selectively, to corral the tectonic plates of twentieth-century political history into 75 minutes. There’s one very desirable utopia that Little Red really brings centre-stage, and which has been at the heart of Behaviour: theatremaking that prefers risk-taking over complacency.

 (Star rating: ***)

THE HERALD, Glasgow

HÖRT

Marcus Droß, 2006-11-07

andcompany&Co. – bereits der Name dieses Theorie-, Performance- und Theaternetzwerkes mit seiner offenen wie zugleich verbindlichen Struktur ist Programm. Seit 2003 bereist die Gruppe die Weiten der postmodernen Landschaften von Theater, Kultur und Politik, um sich jeweils dort temporär anzusiedeln/einzunisten/niederzulassen, wo die jeweils aktiven Mitglieder auf Widerstände stoßen: seien es die Pforten des 2003 geschlossenen Experimentaltheaters TAT in Frankfurt, die Außengrenzen der Europäischen Union oder, wie zuletzt, der eiserne Vorhang und über seine Öffnung das Verschwinden der politischen Utopie des Kommunismus.

Eine weitere Programmatik ist dem Namen des Netzwerkes eingeschrieben: &Co. – das Prinzip des Re-Mix, oder besser, weil materialumfassender, der Re-Animation. Denn all diese Widerstände, derer sich die andcompany&Co. annimmt, werden zu Anlässen, um Ausgegrenztes, Zurückgelassenes, überwunden Geglaubtes einzusammeln und über eigene Strategien zu einem Comeback im Hier und Jetzt einer Kultur, die alles (selbst das Ende der Geschichte) überwinden zu können glaubt, zu ermöglichen.

Damit das Vorhaben einer solchen Vergegenwärtigung nicht bloße Theorie bleibt, sondern für alle Beteiligten (den Zuschauer eingeschlossen) erlebbare Praxis wird, bedarf es weiterer Strategien, die sich die andcompany&Co. auf gemeinsam wie getrennt verlaufenden Pfaden in den vergangenen Jahren erarbeitet hat. Von ihnen soll im Weiteren anhand mehrerer Produktionen berichtet werden.

KOMM

Nicola Nord ist als Performerin und Sängerin von Beginn an im Netzwerk der andcompany&Co. fest verankert. 2004 machte sich von ihrem damaligen, temporären Arbeitsort DasArts (Amsterdam) aus auf die Suche nach Kommunistinnen und Kommunisten. Sie sucht dabei gezielt nach Menschen, die in den Zeiten des real- existierenden Sozialismus diesseits, also westlich des Eisernen Vorhangs lebten und das im festen Glauben an eine gesellschaftliche und politische Utopie des Kommunismus – zumindest bis zu jenem Tag, an dem sich der eiserne Vorhang endgültig hob, die Mauer fiel und jedes weitere Festhalten an der Utopie obsolet zu werden schien.

Im Rahmen ihrer Recherche sprachen Anhänger der letzten großen Utopie des 20. Jahrhunderts mit Nicola Nord über die Trauer, die Leere und das Schweigen, das sich verbreitet und darüber, was bleibt, wenn einem die Utopie abhanden kommt: jede Menge uneingelöster Hoffnungen und Forderungen. Archive for Utopias, lost and found nannte Nord die auto-mobile Inszenierung ihrer gesammelten Dokumente und Materialien. Damit rollte sie durch die europäische Theater- und Festivallandschaft und verschaffte den Erzählungen der einstigen Utopisten Gehör.

USSA

Vor dem Hintergrund dieser akustischen Nahaufnahmen aus dem archive for utopias, lost and found folgt die andcompany&Co. Anfang 2006 einer Einladung nach New York. Mit dabei sind Alexander Karschnia als Autor, Performer und Theoretiker und der Sound-Artist, DJ und Musiker Sascha Sulimma. Auf dem Territorium des einstigen Erzfeindes des Kommunismus will man der Frage nachgehen, von wem und wo heute überhaupt noch über den Kommunismus geredet wird, geredet werden kann.

In REVOLUTIONARY TIMING findet die andcompany&Co. mit der Erfindung des Bühnen-Chats die Antwort und inszeniert sie in Form einer Sprech-Oper im Kurzformat. Eine low-tech Theatermaschine, die der in New York lebende Objekt- und Installationskünstler Noah Fischer für die Aufführung kreiert, liefert die notwendige Hardware. Es sind Lichtmaschinen, deren Material-Sampling manchen Bühnenmeister in Angst und Schrecken versetzen dürfte, angesichts der anarchischen Lust, mit der sicherheitstechnische Kalkulation im Umgang mit Elektrizität durch handverzwirbelte Drähte und Kontakte in kleinen Holzkisten ersetzt wird.

Ein auf diese Weise gebautes Lichtpult, Scheinwerfer, eine von Hand betriebene Lichtorgel und ein Chatroom-Setting aus Fußtretleuchten schaffen auf der Bühne eine retro-futuristische Zeitblase. Darin bewegen sich die Performer der andcompany&Co., proklamieren, singen, zitieren ihre Textmaterialien, die vom sozialistischen Liedgut bis zu antikommunistische Agitationsversuchen von Ronald Reagans reichen. Vor allem jedoch werden Chats improvisiert: „Let’s discuss the greatness and retarded ness of John Lennon here! – He’s ok, but I like Jesus better! – I hate Lennon, he was a communist! – He died like a thousand years ago, get over it buddy!“

Das, was der Chat-Generation mit großer Freude vorgeworfen wird – sich nicht mehr ernsthaft um die Generierung von Sinn zu kümmern – entwickelt durch die Verlautbarung des Bühnen-Chats ein neues, enorm musikalisches Potenzial. Der Rhythmus der schnellen Wortwechsel, die assoziative Drastik der Bezüge, die eiserne Regel, dass jeweils nur einer zu Wort kommen kann, all diese Funktionen halten das Sprechspiel Chat am Laufen. Doch vor allem halten sie den Text auf der Kippe. Jeder dramaturgische Sinn- und Vermittlungswille wird im Sprech-Chat musikalisch aufgerieben, nicht ohne Widerstand der nach Sinn strebenden Worte, doch sie alle müssen gewaltige Reibungsverluste hinnehmen, zu Gunsten der energiereicher Klangkaskaden, die dabei freigesetzt werden.

BRDDR

Eingeladen zum Festival „Freischwimmer – Plattform für junges Theater“ entwickelt die andcompany&Co. im Herbst 2006 ihre Performance „little red (play) – herstory“. In den vorangegangenen Stücken bereits als Figur etabliert unternimmt darin die junge Pionierin little red alias Nicola Nord eine Zeitreise in den Irrealis : Was wäre gewesen, wenn es in der Silvesternacht 1999 die DDR noch gegeben hätte? Aus der interstellaren Perspektive des 3. Jahrtausends, so der dramaturgische Rahmen, blicken die Temponauten der andcompany&Co. auf little red’s junge Geschichte und die politische Utopie des Kommunismus zurück und konstruiert das Doku-Märchen einer Vergangenheit, die little red’s Gegenwart hätte gewesen sein können: aus history wird herstory.

Es ist nicht das erste Mal, dass little red als Nicola Nords künstlerischem alter ego dabei jenen Spagat vollführt, der für die inhaltliche Spannung sorgt. Aufgewachsen in der BRD verbringt sie, wenn alle anderen Kinder im Sommer in den Süden fahren, die Ferien in einem Pionierlager der DDR. Dort kommt es auch zu jener, für little red’s Zeitreise relevanten Verabredung mit ihren Freunden, sich in der Silvesternacht 1999 unter dem Ost-Berliner Fernsehturm zu treffen.

Die Figur der little red ist dabei nicht das einzige Material, was in Form einer multimaterialen (Re-)Animation erneut in Erscheinung tritt. Abermals wird leidenschaftlich gesprochen, gesungen und gechattet, Text und Musik aus REVOLUTIONARY TIMING liefern betriebsinterne Vorlagen, auf die sich die andcompany stützt, wenn sie zur Sprache kommen lassen will, was ihrer Meinung nach dem Schweigen über die Utopie des Kommunismus folgen könnte: ein utopisches Erzählen, aus dem Ende der Geschichte ein Anfang für neue Geschichten wird.

So sitzt die Autorin und Performerin Bini Adamczak in little red (play) dann auch an ihrer literarischen Werkbank zwischen Papier und Low-Tech-Lichtpult und erzählt den Anwesenden von little red’s Reise durch die Zeit. Dass sich dabei der literarische Raum so weit krümmt, dass Brecht, Müller und die Gebrüder Grimm gleichberechtigt nebeneinander stehen, verwundert kaum.

Gemeinsam mit Noah Fischer fertigt die Medien- und Objektkünstlerin Hila Peled den Temponauten ihre räumliche und körperliche Ausstattung. Der Bühnenraum wird zur Textlandschaft, die an die produktivsten Zeiten der russischen Avantgarde erinnert. Zwischen Noah Fischer’s schlichten Arbeitsplätzen erhebt sich eine Text-Skyline aus Pappbuchstaben an Holzlatten: HÖRT – USSAR – BRDDR – KOMM – INTE – ZU – SPUTNIK – ON – S – U – REPUBLIK. In dieser Raumstation agieren die Performer mit überdimensionalen Masken, ob als Uhr mit losen Zeigern, als monströse Micky-Maus oder als Berliner Fernsehturm (für Alexander Karschnia).

Zu rhythmischem Leben erwacht die Textstadt im Schein der Lichtorgel, die es erlaubt, über eine im Zentrum platzierte Kurbel einzelne Leuchten, am Rand des Aufführungsraumes anzusteuern. Der Reihe nach, je nach Geschwindigkeit des Kurbelns, setzt sich die Textstadt in Bewegung, wirf ihre Schatten zu allen Seiten. So wird auch hier der Text zu Musik; ergriffen vom Puls der flackernden Lichter entschwindet der Inhalt – große Musik statt schwerer Worte. Kaum kommt die Lichtmaschine zur Ruhe, stehen die Worte in ihrer gebrochenen, pappkameradenhaften Unbeholfenheit wieder verloren im Raum herum oder versammeln sich verschämt in einer Ecke.

Es ist die enorme Souveränität der andcompany&Co., dass sie ihrem Material, ihren Mitgliedern und Zuschauern gestattet, sich permanent zu verändern. Denn alle Bühnenhandlungen, die immer (auch) akustische sind, stellen jedes Geschehen im Augenblick des Ereignisses dem Vergessen anheim. Erinnern (machen) und Vergessen (machen) sind gleichermaßen zentral. Jede Handlung, die sich eines historischen (Gedächtnis-) Materials annimmt, beinhaltet gleichermaßen eine Strategie, es wieder aus Auge und Ohren zu verlieren

Wenn Alexander Karschnia versteckt hinter einer Dagobert Duck-Maske die Frage stellt, woher nur all die Kommunisten kommen (Antwort: „Nobody knows.“) oder er sich bemüht, Bini Adamczak’s poetische Prosa über das Wollen und Wirken der Temponauten auf eine höhere Sinnstufe (in englischer Sprache) zu versetzen, oder ob Walt Disney’s Aussagen vor dem Komitee für unamerikanische Aktivitäten in einem nicht enden wollenden Fragenkatalog und Ronald Reagan’s Angst vor den Kommunisten im Bühnen-Chat zermahlen werden, trägt dies bei aller Schärfe der Inhalte auch zu ihrer Auflösung bei.

Wenn das noch nicht reicht, wird wieder die Lichtorgel gedreht oder man rennt, Hauptsache, Energie wird freigesetzt. All das bleibt stets ein Spiel, wirkt dabei angemessen ungeprobt, bleibt provisorisch, ohne Antwort. Es ist ein Spiel mit dem Imperfekten, was die Einstellung des erlösenden Sinns getrost auf jenen hellen Tag in ferner Zukunft verschieben kann und sagt: jetzt ist nur das, was ist. Das Hier und Jetzt. Das ist kein falsches Versprechen mehr, das ist wahrhafter Trost.

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Sputnikschock im deutschen Theater

Esther Boldt, Nachtkritik, 2007-11-24

Bildet Banden! Oder besser: eine Band. Weil das Sprechen mit Zitaten zu ihnen gehört, kann man über andcompany&Co. vielleicht nur mit geliehenen Worten reden. Tocotronic singt: „Wir sind viele – jeder einzelne von uns.“ Und andcompany&Co. macht dazu Theater. Das Performancekollektiv, 2003 in Frankfurt am Main gegründet, versteht sich als offenes, aber verbindliches Netzwerk. Den Kern bilden Alexander Karschnia, Autor und Theaterwissenschaftler, Nicola Nord, Sängerin und Performerin sowie Sascha Sulimma, Musiker und DJ.

Ihr erstes großes Stück „for urbanites – nach den großen Städten“ zeigten sie 2004 zur Schließung des Frankfurter Theaters am Turm (TAT). Auf der Bühne: Zehn Performer und ein Klavier. Am Ende bestückten sie sich selbst und das Publikum mit Papierhüten zum Zeichen eines neuen Bundes und marschierten vor das Bockenheimer Depot. Zwei kletterten die Fassade empor und entfernten aus dem Schriftzug TAT die beiden Ts: „Das TAT ist tot, es lebe das A.“ A wie Anfang. A wie andcompany&Co. Aber das Ende des geschichtsträchtigen Avantgardetheaters mit dem Beginn von etwas Neuem gleichzusetzen, bietet sich an und verbietet sich zugleich.

Alle drei stammen sie aus Frankfurt, Alexander Karschnia und Nicola Nord studierten dort Theater-, Film- und Medienwissenschaften, Nicola Nord und Sascha Sulimma spielten in einer Band. 2004 gingen sie nach Amsterdam, weil Nord dort ein Künstlerstipendium in DasArts (The Amsterdam School for Advanced Theater Research and Dance Studies) erhielt. Als ihre „Homebase“ in Deutschland bezeichnen sie das Düsseldorfer Forum Freies Theater (FFT), das viele ihrer Produktionen koproduziert.

Offengelegte Theatermaschinerie

Nach dem andco-Prinzip haben sie bisher unter anderem mit Fotografen, Autoren, Bildenden Künstlern und Musikern zusammengearbeitet. „In gewisser Weise muss man dann das Rad immer wieder von neuem erfinden“, so Karschnia, „aber wenn es gut geht, kann man auch eine gemeinsame Sprache entwickeln. Wir glauben fest an den ‚general intellect‘ (Marx). Es gibt Gruppendenken!“ Kollaboration ist bei ihnen nicht nur ein Diskursmodewort. „Wenn man mit uns zusammenarbeitet, wird man automatisch zur Ko-Autorin, Ko-Regisseurin… Uns verbindet die Faszination für ein Thema, dazu wird dann geforscht, recherchiert, gegoogelt, daraus entstehen dann Texte, Musik…“

Dass nicht jeder andco-Produzent automatisch ein guter Performer ist, versteht sich von selbst, doch die entstehende Spannung ist beachtlich und die Chance zu Scheitern inbegriffen. Ihre Bühnensprache aber besitzt Wiedererkennungswert: Ihre Bühnen sind ausgeräumt, die Performer sitzen oder stehen an ihren Plätzen wie an Instrumenten, ausgestattet mit Textbüchern, Mikrophonen, Lampen oder Laptop. Denn Musik und Ton werden als Performance begriffen, die Theatermaschinerie offen gelegt. Umso mehr, seitdem der New Yorker Künstler Noah Fischer dabei ist.

Kein Erich Honecker ohne Dagobert Duck

Während eines Stipendiums in New York 2006 produzierten sie „Revolutionary Timing“, und Fischer entwarf dafür eine Lichtmaschine aus Stehleuchten und nackten Glühbirnen, gesteuert von einer Lichtorgel. Mit dieser Haptik, ihrer grobschlächtigen Materialität mutet die Bühne bisweilen an wie das „Raumschiff Orion“: Rettungslos anachronistisch und ziemlich futuristisch zugleich.

andcompany&Co. sucht das Theater für die Gegenwart, das mit Netzen und „dotcoms“, aber ohne Kopierschutz operiert. Sie bearbeiten politische, historische und (pop)kulturelle Themen des 20. und 21. Jahrhunderts, jedoch nie isoliert voneinander – kein Mauerfall ohne die Beatles, kein Erich Honecker ohne Dagobert Duck. Zitate markieren Verwandtschaftslinien, die – auch hier ist der Name Programm – Wahlverwandtschaften sind. Text und Musik folgen dem Prinzip von Remix und Loop, von Verdopplung und Variation, Wiederholung und Zerschneidung. Monteverdi und Kurt Weill, Ronald Reagan und Heiner Müller. Bei Alexander Karschnias Textgeflechten gilt der Rhythmus der Sprache ebensoviel wie ihre Buchstäblichkeit, sie deklinieren Wortspiele durch, klopfen sie assoziativ nach Bedeutungsmehrwert ab und werden dabei immer auch Musik.

Mit der Autorin Bini Adamczak kam bei „little red (play): herstory“ (2006) eine Stimme dazu, die sich einfügt und doch einen anderen Klang mitbringt. Auch auf der Bühne spielt Sprache eine prominente Rolle: Beim TAT-Tanz der Buchstaben um den Turm oder beim Bühnenbild von „little red“, das von der isrealischen Künstlerin Hilal Peled stammt. Eine Stadtlandschaft aus Buchstabentürmen, die vor Noah Fischers flackerndem Licht ihre langen Schatten werfen und fiktionale Bündnisse schaffen: USSR, BRDDR. Die Rede mit fremden Zungen lallt bisweilen, an Schärfe verliert sie nicht.

Zugvögel auf Kollisionskurs

„Nicht politisches Theater machen, sondern Theater politisch machen!“ agitiert Alexander Karschnia. Bei andcompany&Co. heißt es auch, sich auf die Suche nach Utopia zu begeben, nach dem Ende der großen Erzählungen den Fluchtpunkt in der Gegenwart zu verorten. Ihre Performances stellen Fragen, situieren sich innerhalb von Diskursen und übertreten sie zugleich. Wie bei einem guten Popsong oder bei David-Lynch-Filmen wird das Zitat dabei nicht Selbstzweck, gerinnt das Diskursgemetzel nicht zur Pose, sondern wird umgehend in den Rhythmus der Performance transportiert.

So montierten sie in „for urbanites“ die Historie und Gegenwart der Stadt Frankfurt und ihres Theaters mit Brechts Goldgräberstadt Mahagonny: „Ein Gespenst geht um, das Gespenst der Krise: Stadtsterben, Theatertod.“ Und erklärten kurzerhand die Nachbarstadt Offenbach – „off off“ – zur Utopie. In „Europe an Alien“ (2005/06) war es die Suche nach der europäischen Identität in Geschichte und Gegenwart, dort brachten sie EU-Europa und mythologische Vorgeschichte, Schengen und Dionysos, Flüchtlingsströme und die Wanderung der Zugvögel auf Kollisionskurs.

Kinder des Kalten Krieges

In den letzten zwei Jahren ist es das Ende des Kommunismus, das sich die Kinder des Kalten Krieges vornehmen – in „Revolutionary Timing“ und im daraus entwickelten ersten Teil ihrer Kommunismus-Trilogie „little red (play): herstory“, der im Rahmen des Festivals Freischwimmer 2006 produziert wurde und seither unter anderem in den Berliner Sophiensaelen, auf Kampnagel in Hamburg und beim Kunstenfestivaldesarts in Brüssel zu sehen war.

Darin drehen sie das Rad der Zeit zurück, machen aus dem Ende der Geschichte den Anfang einer Geschichte, aus history herstory. Nicola Nord erzählt als „little red“ von ihrer Kindheit und Jugend als „westdeutsches Kommunistenkind“, das in den Sommerferien in die DDR fuhr und die Jahrtausendwende mit den Pionierfreunden in Berlin feiern wollte. Doch die Utopie starb zuerst, das Lied vom Ende des Kommunismus in Europa erklang. Ein Gespenst geht um… „little red“ aber verlängert die Geschichte, negiert den Mauerfall, lässt die Utopie wieder auferstehen inklusive Feuerwerk, Rotkäppchen und Showdown in der DDR.

Tanz ins Weltall

Beim Steirischen Herbst in Graz produzieren sie derzeit mit insgesamt sieben andco-Produzenten den zweiten Teil der Trilogie, „Time Republic“ hat am 28.9. Premiere und greift zum 50. Jahrestag den Sputnik-Schock auf. Tanz ins All. Neben den zahlreichen Stückproduktionen sorgen so genannte andco-Labs, Laboratorien dafür, dass die Zeit nicht stehen bleibt. Schnelle, dreckige Arbeiten, bei denen mit unterschiedlichen Partnern Selbst- und Fremdversuche gestartet werden.

Ihre Performances lassen sich als Fortsetzungsgeschichten sehen, Re-mixe, postmodern und postdramatisch. Vielleicht ist diese stationäre Entwicklung, die Selbstwiederholung auch die einzig mögliche Strategie, auf einem Kunstmarkt zu überleben und zugleich Qualität zu behaupten, der ständig neue Produkte fordert: So machen andco mit Deleuze/Guattari „Produktion von Produktion“ wie es das Gründungsmanifest der Truppe versprach. Und weil andco nicht ohne Programmatik sein könnten, hat Alexander Karschnia für die Grazer Premiere keine kleine Ansage gemacht. Es werde höchste Zeit für einen Sputnik-Schock im deutschen Theater. Nun denn: Höchste Zeit für einen theatralen Tanz in Richtung All, der sich vor Pathos, Poesie und politischer Positionierung nicht fürchtet.

Nachtkritik

Rotkäppchen im Kalten Krieg

itz, Hamburger Abendblatt, 2006-10-23

Rotkäppchen trägt Raumfahrerhelm in Rot. "Nicola Nord & Co" erzählen in der Performance "little red (play): Herstory" zum Auftakt der Freischwimmer-Plattform für junge Theatermacher in der Kampnagelfabrik vom Märchen des Kommunismus. Dabei unternehmen sie eine amüsante und ironische Zeitreise zurück in die Ära des Kalten Krieges. Lichter an- und ausknipsend, liefern sich vier Performer in der Installation aus Buchstaben-, Klang- und Lampen-Elementen amüsante Wortgefechte in den Feindessprachen Englisch und Deutsch.
Unmerklich nimmt das Spiel (autobiografischer) Erinnerungen über Hippies und Vietnam, Ho Chi Minh und Erich Honecker, Richard Nixon und Joseph McCarthys Tribunal gegen kommunistische Umtriebe scharfen Verhörgestus an. Die rote Utopie endet im Knallererbsen-Geknatter vom Spielzeugpistolen- Dauerfeuer – nur eine sozial und ideologisch getarnte Mär der kriegerisch Mächtigen für das Volk?

Hamburger Abendblatt