Ein frecher schneller Abend

Michael Laages, Deutschlandfunk, 2011-03-14

Es ist der wohl frechste Versuch einer Vergangenheitsbewältigung im Film der frühen Nachkriegsjahre: die Kurt-Hoffmann-Satire "Wir Wunderkinder". Das Deutsche Theater Göttingen und das Ensemble "andcompany" bringen den Stoff jetzt auf die Bühne.

Wolfgang Neuss haut auf die Pauke, und gemeinsam mit dem musikalischen Kabarett-Partner Wolfgang Müller aus Hannover erzählt der Satire-Star jener Jahre die Geschichte des tödlichen deutschen Tingeltangels: von wilhelminischer Völkerschlacht- und Weltkrieg Eins und später brauner Nazi-Begeisterung bis hin zu postfaschistischem Katzenjammer und dem "Wir sind wieder wer!" des deutschen Nachkriegswirtschaftswunders. Mit dieser dramaturgischen Zugabe wurde – und blieb – Kurt Hoffmanns Film "Wir Wunderkinder" das Meisterbeispiel einer Kino-Satire, auch wenn Neuss selber so unzufrieden mit dem Ergebnis war, dass er prompt auf eigene Kosten eine politisch sehr viel angriffslustigere Fortsetzung oder Parodie drehte: "Wir Kellerkinder".

Die Göttinger Filmproduzenten Rolf Thiele und Hans Abich allerdings hatten immerhin ein echtes Star-Ensemble jener Jahre mit Neuss auf den Weg der "Wunderkinder" geschickt: Elisabeth Flickenschildt und den grandiosen, früh verstorbenen Robert Graf, den ganz jungen Hans Jörg Felmy und die noch jüngere Johanna von Koczian. "Wir Wunderkinder" war ein Kino-Erfolg für die ganze Nachkriegsfamilie und dennoch eine brillante Satire.

Und es muss ein kleines Abenteuer für sich gewesen sein, sich dieses Unikat des deutschen Kinos auf der Bühne vorzustellen: in Göttingen.

Es gehört zu den echten Überraschungen der Produktion am Deutschen Theater, dass sich Nicola Nord und Alexander Karschnia, Musiker Sascha Sulimma und Bühnenbildner Jan Brokof, die Ideenstifter im Berliner Off-Kollektiv "andcompany&co", über weite Strecken extrem eng an die Geschichte gehalten haben, wie der Film sie erzählt nach dem prächtigen Roman des Nachkriegssatirikers Hugo Hartung.

Sonst neigt die Gruppe ja eher dazu, das Material eigener Arbeiten stark zu fragmentieren und dann mit enorm viel theoretischem Überbau zuzuschütten. "andcompany"-Aufführungen sind meistens ziemlich klug, aber ebenso oft auch ein wenig blutleer und überangestrengt konstruiert.

Hier und mit dem enorm animierten Ensemble am Deutschen Theater in Göttingen verlässt sich das Produktionsteam womöglich zum ersten Mal ganz und gar auf die Vorlage und rückt der mit der Company-Strategie des forciert naiven Bildertheaters zu Leibe. Nur wo es mehr oder minder dringend nötig erscheint, greift die "andcompany" gedanklich ein, ergänzt und erweitert sie die pfiffige Filmgeschichte.

Die erzählt ja vor allem vom ewigen Deutschen. Bruno Tiches heißt der – Robert Graf spielt ihn ziemlich diabolisch im Film – und ein Durchmauschler ist er, ein Fähnchen-nach-dem-Wind-Stratege: Nazi ist er, wenn das nützlich ist, und gleich danach ist er per du mit den Besatzern. Überall wittert diese unzerstörbare Type den eigenen Vorteil und weiß den zu nutzen, erst recht im Wirtschaftswunder der Nachkriegsjahre. Der Film lässt ihn sehr symbolträchtig sterben, als er – längst zum Wirtschaftsboss aufgestiegen – wieder mal aufsteigen will und einen Fahrstuhl betritt, der leider gerade in Reparatur ist und darum im Keller.

Dem ewigen deutschen Gangster steht als ewiger Freund ein deutscher Gutmensch gegenüber, Hans Boeckel, der nie mitbekommt, welche Desaster sich politisch gerade ankündigen. Dieses deutsche Doppelwesen nun verlängern die "andcompany"-Macher herüber in mancherlei Gegenwarten, basteln Bilder vom "deutschen Herbst" der terroristischen 70er-Jahre mit ins Spiel und den Mauerfall ein lächerliches kurzes Jahrzehnt später. Kinder, wie schnell doch die Zeit verging. Und die jüngste Version des ewigen deutschen ist für die "andcompany" natürlich der akademische Fälscher aus den fränkischen Wäldern von und zu Guttenberg. Wie Hoffmanns Film mit Neuss und Müller die Spitzen des Kabaretts jener Jahre mit Spitzen zur deutschen Nachkriegsaktualität ausstattete, so mausern sich die Göttinger "Wunderkinder" zur klug dosierten Kabarett-Revue.

Natürlich bleibt die "andcompany" bei aller Nähe zum Material ein freies Ensemble und polemisiert – zuweilen ein wenig zu dekorativ – gegen die beamtenhafte Sicherheit des deutschen Stadttheaterbetriebs, besonders wenn es um die allgegenwärtige Hitler-Präsenz geht in der "Wunderkinder"-Story. Aber nie bricht der freche schnelle Abend unter Theorie zusammen und erobert stattdessen ein feines, kleines Stadttheater mit der Geschichte eines großen deutschen Films.

Deutschlandfunk

STIMMUNG!

Alexander Karschnia, Theaterzeitung dt Göttingen, 2011-03-03

STIMMUNG! Es lebe…

27.02.2010. Über Deutschland tobt Xynthia, ein gewaltiges Sturmtief: Häuser werden abgedeckt, Bäume entwurzelt, Wanderer erschlagen. Es ist der Morgen nach einer Aufführung in Mülheim a. d. Ruhr. Man hatte uns gewarnt, frühzeitig oder gar nicht erst aufzubrechen. Wir schlugen die Warnungen in den Wind und – blieben stecken. Doch wir hatten Glück: Unser ICE blieb erst kurz vorm Frankfurter Flughafen liegen. Wir begaben uns rasch nach oben in die Abflughalle. Hinter den Fensterwänden sahen wir Xynthia vorbei fegen: Bäume bäumen sich auf, Zettel, Tüten, Zeitungen rasen durch die Luft. Wir wagen uns ins Freie, vor der Drehtür jagt der Sturm Blätter am Boden im Kreis herum. Xynthia zerrt an uns, wir müsssen uns dem Wind mit aller Kraft entgegen stemmen. Da klingelt mein Telefon: „Hallo, hier ist Lu…“ höre ich eine vertraute Stimme aus der Ferne. „Wer ist da?“ schreie ich zurück. „Lutz.“ Ich brülle zurück: „Lutz! Ich bin im Sturm, Moment.“ Ich laufe im Winkel von 45 Grad über den Boden geneigt auf ein Auto zu, die Tür wird mir fast aus der Hand gerissen und lasse mich ins Innere fallen: „Jetzt.“ Lutz: „Hast Du Dich in eine Telefonzelle geflüchtet?“ – „Ähh, so ähnlich.“ – „Habt ihr nicht Lust, bei uns die Wunderkinder zu machen.“ So fing’s an. Ich rufe ins Telefon, als sei ich immer noch im Sturm: „Wunderkinder?“ Da war doch was. „Genau“, sagt Lutz: „Mit Wolfgang Neuss & Wolfgang Müller.“ Vor mir sitzt Wolfgang Nord, Nicola’s Vater vorm Steuer und manövriert vorsichtig durch den Sturm – wir sind auf der Autobahn, alle fahren maximal 50. Wolfgang ist hochkonzentriert, doch jetzt nickt er heftig: „Toller Film! Bester Film über diese Zeit!“ Welche Zeit? Diese „Schwarzweiß-Zeit“, sagt er, die so genannte „Nachkriegszeit“. Was soll das eigentlich heißen – die „so genannte“, fragen wir uns. Leben wir denn heute nicht immer noch in dieser Zeit? Oder was ist das für eine Zeit heute? Schon wieder eine Vorkriegszeit? Mit genau dieser Frage beginnt der Film in einer Nachkriegszeit, die unmittelbare Vorkriegszeit ist: das Jahr 1913. Nur wussten es die meisten damals noch nicht. „Das ist ja das Schöne am Frieden, dass man die Erinnerung an alte Kriege immer wieder aufwärmen kann.“ heißt es am Anfang über die Hundertjahrfeier der Völkerschlacht bei Leipzig. Wenige Monate später beginnt der Erste Weltkrieg und mit ihm jenes 20. Jahrhundert, von denen manche sagen, dass es außerordentlich kurz gewesen sei (Eric Hobsbawm z.B.). Das Kaiserreich zerbrach und was kam dann? Der Frieden? Die Republik? Na –

STIMMUNG! Es lebe die Nachkriegszeit,
die ist fast so schön wie die Vorkriegszeit!
Es ist doch wahrscheinlich was dran an den Demokratien!
(Woll’n Se nich ’ne kleine Prise Kokain?)

singen Neuss & Müller über die ‚roaring 20’s in Deutschland, die die Depression der Niederlage verwandelten in eine überdrehte Boom-Euphorie. Ein Schub befreiender Energien fuhr wie ein Sturm durchs Land: Befreiung der Sitten, der Frauen, der Körper, der Liebe, der Kunst, der Politik, der Musik, der Jugend… Avantgarde-Kunst, Jazz, Drogen, Bohème-Leben, Promiskuität, wildes Denken, radikale politische Bewegungen. Bis zum Ende des Jahrzehnts: 1929. Schwarzer Freitag, Börsen-Crash. Krise. Der Aufstieg des Nationalsozialismus. Davon handelt der größte Teil von Wir Wunderkinder. Wir sind restlos begeistert, spätestens seit dem STIMMUNG-Song von Wolfgang & Wolfgang instant fans. Songs wie aus einem Brecht-Stück! Aus jener legendären Zeit der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Wie anders war die Zeit, in der der Film gemacht wurde, jene fünfziger Jahre! Eine graue Zeit, sagen die, die damals jung waren: „Schwarzweiß-Zeit“. Das Gegenteil der bunten 20er. Die Farbe kam erst später, in den 60ern: Farbfilme, Fernsehen, Konzerte, Krawalle, Massenproteste. Woodstock. Hippies. Latsch-Demos. Studentenbewegung: Sit-Ins, Teach-Ins, Be-Ins: Love & Peace. Sex, Drugs & Rock’n’Roll: the new20’s, die Zeit der Jugend-, Schüler- und Studenten-, Frauen-, Friedensbewegung, die Befreiung vom Mief der 50ern, der Adenauer-Republik, dem „CDU-Staat“ (wie es damals hieß). Das war das 20. Jahrhundert: zweimal Nachkriegszeit, im Abstand von 30 Jahren, dem Leben einer Generation. Es ist diese „Erlebnisgeneration“, von der dieser Film handelt, die es heute kaum noch gibt, bzw. immer weniger, eine Handvoll Hundertjähriger. Der Film ist jedoch nicht nur für sie gemacht worden, sondern für ihre Kinder, die wie sie damals Kinder waren während des Krieges: Kriegskinder. Wunderkinder. Kinder des „Wirtschaftswunders“. Unsre Eltern. Faszinierend, wie sich die Reaktionen auf den Film ähneln: „Kennen Sie den Film Wir Wunderkinder?“ STIMMUNG! Es ist doch wahrscheinlich was dran an diesem Film, denken wir uns, der ältere Menschen sofort zum Singen bringt. Und was für Lieder. Böse Lieder: „Es lebe die Nachkriegszeit, die ist fast so schön wie die Vorkriegszeit.“ Aber was hat das denn mit heute zu tun, fragt Henning Rischbieter, Gründer und ehemaligen Herausgeber von THEATER HEUTE. Es ist tief in der Nacht, ich bin auf einer Geburtstagsparty von Theaterleuten und habe ihm – nachdem er erzählt hatte, dass er nach dem Krieg in Göttingen studiert hatte – unvorsichtigerweise verraten, dass wir WUNDERKINDER am dt Göttingen inszenieren würde. „Total viel!“ sag ich. Er blickt spöttisch, ungläubig und unglaublich weise. Ich rudere mit den Armen: „STIMMUNG, die Nachkriegszeit…“ Er entschuldigt sich mit einem Murmeln und erhebt sich. Neben mir sitzt die Dramaturgin eines bekannten Berliner Theaters: „STIMMUNG, die Nachkriegszeit“, versuche ich umständlich zu erklären, so ein Song… Die Frau ist aus dem Osten, Jahrgang 1957, sie nickt wissend. Kennt’se. Der Film lief ja auch in der DDR, hatte da Bombenkritiken bekommen (was war wahrscheinlich der Grund für die schlechten Kritiken in der westdeutschen Presse war), internationale Preise gewonnen, in den USA und der SU. Und es war der erste deutsche Film, der in Israel gezeigt wurde, wochenlang waren die Tel Aviver Kinos voll. Ein Jahrhundertfilm, ein Film über das Jahrhundert: Ein Jahrhundert, über das man sich nicht genug wundern kann. Staunen. Doch das Staunen darüber, dass so etwas wie der deutsche Faschismus möglich war, sei unphilosophisch, habe Benjamin zu Brecht gesagt, belehrt mich ein brasilianischer Freund. Als ich mit ihm von der Party nach Hause gehe regnet es in Strömen, es ist sehr dunkel, wir sind total durchnässt, ich versuche die deutsche Geschichte zu erklären. Zusammenfassend: „Vorkriegszeit, Nachkriegszeit, Vorkriegszeit, Nachkriegszeit.“ – „Vorkriegszeit?“ – „Das ist die Frage.“ Mein Freund versteht mich.

„Aber wir sind doch wieder im Krieg!“ schimpft ein andrer Freund, nachdem er unser letztes Stück gesehen hatte: FatzerBraz. Brechts Stück über vier Deserteure aus dem Ersten Weltkrieg, die sich in Mülheim a. d. Ruhr verstecken. Dort warten sie auf ein Wunder. Sie warten darauf, dass sich die Bevölkerung erhebt gegen den Krieg, dass sie die Regierung stürzt, den Kaiser verjagt und seine Generäle, Junker, Adlige… Ein Sturm der Befreiung, der ausbleibt. Am Ende bringen sie sich gegenseitig um. Brechts bestes Stück, allerdings Fragment geblieben. Mein Freund schimpft, wie lasch ich den Text über die Desertion gesprochen hätte: „Aber wir sind doch wieder im Krieg! Das ist doch hochaktuell!“ Wir diskutieren, was Desertion heute heißen könnte. Wie zur Antwort hängt an einer Litfaßsäule ein Plakat, illegal geklebt über die Werbeflächen: „Desertieren!“ steht dort vor einem verwackelten Video-Still von einem Toten vor einem Tanklastwagen. Afghanistan, Kunduz. Und: „Deutschland ist im Krieg“. Kann man alltagssprachlich so sagen, hat der ehemalig Verteidigungsminister gesagt. „Ehemalig“seit gestern, 2.3.11. Guttenberg heißt zwar immer noch Freiherr zu, aber nicht länger Dr. Was hat Germany’s last Superstar denn damit zu tun, der „coole Baron“ (Ulf Poschardt)? Auch so ein sog. „Junker“, die damals des Kaisers Hof gebildet haben, dann des Hindenburgs Lobby und zu letzt des Hitlers Helfer, sagt mein Freund. Bis sie ganz zu guter letzt des Hitlers Attentäter hatten werden wollen und am Strick (einer Klaviersaite) endeten, wo bis gestern, bzw. heute morgen Guttenberg residierte: am Bendlerblock. Sein Cousin Henckell von Donnersmarck hatte versucht, Tom Cruise zu helfen, dort 2007 eine Drehgenehmigung zu bekommen für Operation Valkyre, um sich am Originalschauplatz erschießen zu lassen und zu rufen: „Es lebe das Heilige Deutschland!“ Aber was hat das mit den Wunderkindern zu tun? Nun, nach so einem Jahrhundert kann man sich nur wundern, dass man immer noch da ist – sagt Neuss im Trailer vom Film. Und da hat er doch recht: immer noch! Gerade als Nachgeborener kann man sich nicht genug darüber wundern, dass man überhaupt auf der Welt ist, bzw. dass unsere Eltern überhaupt auf die Welt kommen konnten, damals. Und wie viele nicht auf die Welt kamen, nie auf die Welt würden kommen können, da ihre Eltern das niemals werden konnten: ihre Eltern. Die Wunderkinder, das sind wir selber, Kinder der Wunderkinder, Kindeskinder: „Kinder einer wunderlichen Zeit, die voller Tüchtigkeit immer neue Wunder schaffen und sie stolz bewundern in ihrer Wunderwirklichkeit!“ Kinder von Mythen: WW (Wirtschaftswunder), WA (Wiederaufbau) – und eben auch WB (Wiederbewaffnung). Wir-sind-wieder-wer! Nur wer? Wehrpflichtige… In dieser Art spottete Neuss damals, doch damit ist jetzt Schluss: Wehrpflicht, Bürger in Uniform, Guttenberg-sei-Dank. Und einen WA haben wir auch hinter uns, der hieß AUFBAU OST und ist so gut wie abgeschlossen, heißt es. Doch das Wunder, das die Ossis damals erleben sollten, war oft ein blaues. Das waren die 90er, unsre Nachkriegszeit: Nach-Kalte-Kriegszeit. Auch das längst Geschichte heute. Aber was hat der Film denn nun mit heute zu tun? Ich verrate nur so viel: Exakt fünfzig Jahre nachdem der Film gedreht wurde, endete die Zeit, die er besungen hat: die wunderbare Wirtschaftswunderzeit. 79 Jahre nach dem Schwarzen Freitag. Dass man seit einiger Zeit flüstert, wir bräuchten dringend ein neues WW verrät, dass sie nun wohl endgültig vorbei ist. Oder uns unmittelbar bevorsteht: STIMMUNG!
 

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Verblüffend, paradox, wahr: „Wir Wunderkinder“

Peter Krüger-Lenz, Göttinger Tageblatt, 2011-03-13

An der rechten Loge im Deutschen Theater (DT) Göttingen hängt eine gemalte Diskokugel. Die Namen Wojo und Hans sind darauf zu lesen. Hier ist das musikalische Reich von Wojo van Brouwer und Hans Kaul. Die Loge auf der gegenüberliegenden Seite ist als DaF-Zentrum ausgewiesen.

Die drei Buchstaben stehen für „Deutsch als Fremdsprache“, hier sitzt die Souffleuse. Zwei Randnotizen, die zeigen, dass das Regiekollektiv „andcompany&co auf Details Wert legt. Aber auch auf das große Ganze. Am Sonnabend hatte ihre Produktion „Wunderkinder“ nach dem Fünfzigerjahre-Film „Wir Wunderkinder“ Uraufführung im DT.

Alexander Karschnia, Nicola Nord und Sascha Sulimma sind „andcompany&co“. Sie haben ihr Kollektiv 2003 gegründet, arbeiten netzwerkartig mit Künstlern anderer Genres zusammen – diesmal mit dem Bildenden Künstler Jan Brokof, der das Bühnenbild entwarf und zu großen Teilen gestaltete. Sie arbeiten in Geschichte, genauer: in deutscher Geschichte. Und dabei haben sie in dem Film eine ideale Grundlage gefunden. „Wir Wunderkinder“ basiert auf dem gleichnamigen Roman von Hugo Hartung, veröffentlicht 1957, der den Protagonisten Hans Boeckel über 40 Jahre lang begleitet. Der Film beschreibt die Erlebnisse Boeckels in Deutschland von etwa 1920 bis nach dem Zweiten Weltkrieg, „andcompany&co“ verlängern diesen Blick bis in die Gegenwart – und arbeiten dabei präzise und intelligent bemerkenswerte Kontinuitäten heraus.

Boeckel ist ein politisch naiver junger Mann, ein promovierter Philosoph, der sein Geld als Feuilletonist verdient, bis die Nationalsozialisten ihn kalt stellen. Er heiratet eine Dänin, in deren Familie Boeckel den Zweiten Weltkrieg übersteht. Nach Kriegsende trifft er einen alten Schulfreund wieder, einst Nazi, jetzt schon wieder etabliert. Doch „ancompany&co“ belassen es eben nicht dabei. Sie spinnen das Geschehen fort über die Studentenrevolte und die RAF bis ins heute. Dabei setzten sie ein ganzes Arsenal theatralischer Mittel ein.

Vieles klingt nach Kabarett, in regelmäßigen Abständen stoppt das Geschehen, und die Akteure plaudern, debattieren und streiten über tagespolitische Themen. Revue und Musical bringen Unterhaltung.

Andere Szenen sind angelegt wie aus einem Slapstick-Stummfilm. So wird beispielsweise aus Charlie Chaplins Film „Der große Diktator“ zitiert. All das haben „andcompany&co“ elegant ineinander verschränkt – und dabei ein rasantes Tempo angeschlagen. Mehr als 100 Jahre Geschichte sollen schließlich in knapp 120 Minuten aufgearbeitet werden.

Das Regiekonzept ist auf Ensemblespiel angelegt, und die 13-köpfige Schauspielergruppe agiert wie aus einem Guss. Der Protagonist Boeckel ist besetzt mit Gerrit Neuhaus, im Film wird er von dem jungen Hansjörg Felmy gespielt. Beide sind sich nicht unähnlich, beide passen perfekt in die Rolle des aufrechten jungen Mannes, der ohne Arg, aber auch ohne Initiative durch die Zeit gleitet.

Florian Eppinger spielt Boeckels Schulfreund Bruno Tiches, jenen Nazibonzen und Nachkriegsprofiteur, mit großer Ruhe und Boshaftigkeit. Andrea Strube steht als Sippenchefin für all jene, die sich im Chaos durchgewurschtelt haben, clever und immer wieder auch rücksichtslos. Und Wojo van Brouwer führt, angelegt an den Film, als singender Moderator durch den Strudel der Zeit. Hans Kaul steht ihm dabei spiel- und sangesfreudig zur Seite. Verstärkt wird das DT-Ensemble durch Mirka Migulla, Helena Hentschel und Andreas Daniel Müller, Schauspielschüler aus Hannover, Ergebnis einer Kooperation.

Eine ganz verblüffende und erfrischende Reflektionsebene hat das Regiekollektiv noch eingezogen, es macht Probenarbeit zum Thema. Mit einem Stückchen schwarzem Klebeband unter der Nase gibt auch Lutz Gebhardt den Adolf Hitler. Er beschwört den Endsieg, der längst Illusion ist, die Kollegen schreiten ein: „Lutz, du bist nicht Bruno Ganz, und wir spielen nicht ,Der Untergang’“. Und Anja Schreiber darf sich als Anja Schreiber austoben und mehr Wahrhaftigkeit und Emotion auf der Bühne fordern. Das peppt die Inszenierung, aber macht auch klar: Hier geht es nicht um Fiktion, hier geht es um die Wirklichkeit.

Für all das hat Künstler Brokof einen drehbaren detailreichen Turm entworfen, der Wohnhaus ist und Reisebus, Häuserfront und Berliner Mauer. Hier spielt sich nicht unbedingt klassisches Theater ab, aber auf jeden Fall eine Vielfalt und Fülle, die in einer einzigen Vorstellung unmöglich zu erfassen ist. Intellektuell und witzig, politisch und unterhaltsam. Paradox, aber wahr.

Göttinger Tageblatt

Proben zur Uraufführung von „Wunderkinder“

Peter Krüger-Lenz, Göttinger Tageblatt, 2011-03-08

Kommt das Tonsignal zum Ende der Szene nun aus der Seitenloge, also von außen? Oder doch lieber von der Bühne aus dem Geschehen heraus? Soll ein Gong ertönen oder doch lieber die Triangel? Es sind Feinabstufungen, die das Regiekollektiv „andcompany&co“ am Montagabend, 7. März, auf der großen Bühne des Deutschen Theaters (DT) Göttingen mit dem Ensemble für die Uraufführung „Wunderkinder“ probt, ein musikalischer Parforceritt durch die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Die Entwicklung des Stücks nach dem Film „Wir Wunderkinder“ mit Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller ist weit voran geschritten, in den verbliebenen Tagen vor der ersten Vorstellung am Sonnabend, 12. März, sollen vor allen Dingen sogenannte Durchlaufproben angesetzt werden, Testläufe also ohne große Unterbrechungen.

Die Triangel beendet dann schließlich Karl Millers Spiel mit einem Sitzball, dass an Charly Chaplins Tanz mit dem Globus in seinem Film „Der große Diktator“ erinnert. Miller schleicht nach hinten ab, doch er schleicht zu schnell. Nach kurzer Wiederholung trifft er dann den Punkt kurz bevor der Vorhang ganz geschlossen ist.

Die Regisseure Nicola Nord, Alexander Karschnia und Sascha Sulimma sitzen in der Mitte des Zuschauersaals und diskutieren mit den Schauspielern. Dann wieder geben sie Anweisungen, die umgesetzt werden. Karschnia und Sulimma sind gerade von einem Festival in Japan zurückgekehrt (Tageblatt berichtete), Karschnia nach drei Tagen und Nächten ohne Schlaf („Die Zeitverschiebung hat mich völlig durcheinander gebracht“) und 20 Stunden tiefstem Schlummer wieder halbwegs ausgeruht. Jetzt soll noch die Szene in Form gebracht werden, in der der dreistöckige Turm im Zentrum der Bühne mehrfach um die eigene Achse gedreht wird. Wer muss wann aus welchem Fenster in der mittleren Etage schauen? Und die Frage ist zu klären, ob ein Sirenengeheul, das den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs signalisiert, gesungen oder per Megaphon eingespielt wird. Die große Ausgabe des Lautsprechers dröhnt arg laut, wenn sie in Richtung Zuschauerraum gehalten wird, die kleine Variante sorgt für Lacher unter den Schauspielern und Regisseuren. Denn sie ist für das Fußballstadion gedacht und imitiert Fangesänge. Doch erstmal wird das doppelte Gedröhne für gut befunden. Ob das Sirenenduett bei der Premiere noch bestand haben wird, werden die letzten Proben zeigen.

Dann spricht Karschnia mit Hans Kaul, dem musikalischen Leiter des DT, der die Produktion mit Live-Musik begleitet. Noten zu einem Lied fehlen noch. Ob er sie von der CD heraushören soll? Lieber möchte Kaul es aber selbst entwickeln. Karschnia ist einverstanden. Nur wenige Minuten braucht der Musiker, bis die flott auf dem Klavier gespielte Tonfolge steht. Flott ist auch Kauls Auftritt mit dem Akkordeon bei einer dänischen Hochzeit. Voller Inbrunst singt er dazu ein nordisch Lied. Auch hier muss der Ablauf der tanzenden Paare präzise festgelegt werden, auch hier gelingt die Umsetzung den Schauspielern überraschend schnell, das Regietrio bittet zur nächsten Szene.

Göttinger Tageblatt

Freier Fall durch die Geschichte

Juliane Sattler, HNA, 2011-03-15

Am DT in Göttingen gibt es mit der „Wunderkinder“-Revue ein turbulentes Deutschlandspektakel

Sie hat genug. Schiebt sich durch die Tür des Eisernen Vorhangs und wendet sich an das Publikum. „Immer dieses Ramba-Zamba-Kabarett“, dieses postmoderne Theater. Lieber muss man erzählen, etwas Menschliches. Die Schauspielerin Anna Schreiber hat ihrer Empörung Luft gemacht und verschwindet. Das Theater im Theater, die Idee eventuelle Kritik vorwegzunehmen, ist ein kluger Schachzug der Macher.

Ramba Zamba, oder die Deutschen feiern die Feste wie sie fallen: Das Regieteam andcompany&Co. setzte im Deutschen Theater in Göttingen seine Uraufführung „Wunderkinder“ mit kreativem Chaos auf die Bühne. Ein komödiantisches Geschichtsspektakel, eine Revue mit Gauklern, in deren Mittelpunkt die aus dem „Wir Wunderkinder“-Film entlehnten ungleichen Freunde stehen: Bruno Tiches, der Wendehals, und Hans Boeckel, der Aufrechte. Der mit dem Machogebaren bleibt oben, der mit dem ehrlichen Doktortitel unten. So ist das Leben.

Auf der Bühne von Jan Brokof spuckt die dreistöckige schwarz-rot-goldene Box mit der Standarte und dem Hakenkreuz hundert Jahre Geschichte aus, und das Publikum rauscht im freien Fall durch die Zeiten – vom Kaiserreich bis in die Jetztzeit. Der Erzähler Wojo von Brouwer bringt die Kommentare auf den Punkt, spult nach vorn, spult zurück, als wär‘s ein Film.

Nur die Gaukler Fellinis spielen weiter, zwischen Witz, Karikatur und Nostalgie bleibt nichts unbelacht: der andere Hitler von Karl Mille erturnt sich wie ein chaplinesker Träumer die Weltherrschaft, und Hans Boeckels Urlaub von der Diktatur wird zu einer brillanten Miniatur des Nichts-Verstehens. Herrlich.

Schade nur, dass die Wirtschaftswunderjahre allzu kurz abgehandelt werden: Die Schauspieler tragen Transparente und jonglieren mit Stichworten, kein Tiefgang, dafür Übersicht. Erst wird man dicker, dann begehrt man auf. Wutbürger sind wir doch alle. Studentenrevolte, RAF, Mauerfall, und die Wendehälse haben es wieder mal geschafft. Da hat man schnell eine „Deutschland-Dämmerung“, schreit eine wütend. Das auch für die Texte verantwortliche Berliner Regieteam zieht alle Register, wartet mit aberwitzigen Bezügen auf. Chapeau.

„Stimmung!“ steht auf dem Programmheft, und davon gab’s genug in der von Hans Kaul musikalisch begleiteten Uraufführung. Nicht zuletzt durch ein furios aufspielendes Ensemble: allen voran das Stehaufmännchen Bruno von Florian Eppinger, sein ehrenwerter Gegenspieler Hans Boekel von Gerrit Neuhaus, Andrea Strubes auftrumpfende Lebenskünstlerin Frau Meisegeier und die niedliche Kirsten von Marie-Isabel Walke. Und wie Lutz Gebhardt als Führer den Bruno Ganz mimt, war schon hinreißend. Applaus nach einem Zwei-Stunden-Geschichtsunterricht der anderen Art. Hier wurden die Schrecken weggelacht.

HNA

Wutbürger - ist das was zu essen?

Hans-Thies Lehmann, Theater der Zeit, 2011-05-01

Die Idee, als Grundlage für eine revueartige Deutschlandsatire von andcompany&Co. „Wir Wunderkinder" aus dem Jahre 1957 zu neh­men, eine der erfolgreichsten Produktionen der Göttinger Filmaufbau GmbH, hat sich be­währt: Dank der Initiative des neuen Chef­dramaturgen Lutz Keßler ist am Deutschen Theater Göttingen eine neue andcompany&Co. zu sehen – und doch zugleich die alte, die sich mit ihren anarchischen Erinnerungsabenden („Mausoleum Buffo", „ Little Red (Play): Her­story") ein wachsendes Fanpublikum erspielt hat. Den gemeinschaftlichen Arbeitsstil ha­ben sie ans Stadttheater mitgenommen, auch ihren genauen Sinn für Ton und Rhythmus (Sascha Sulimma), ihre eigentümliche Büh­nenästhetik – das Spiel mit Schrift und Zweidimensionalität, das Brecht schon bei Caspar Neher geliebt hat -, die kindlich scheinenden Requisiten und Zeichen aus Pappmaschee und Sperrholz sowie das reizvolle Spiel mit dem Unperfekten.

Auch diese „Revue" wartet mit quer assoziierendem Denken, unerwarteten Verknüp­fungen, anarchischer Phantasie und alberner Spiellaune auf. Nachdem sie gerade in Sao Paulo und Berlin eine bemerkenswerte deutsch-brasilianische Produktion von Brechts „Fatzer" auf die Beine gebracht haben, ha­ben die Mitglieder von andcompany&Co. in Göttingen zum ersten Mal als Regisseure mit einem Ensemble gearbeitet, standen Alexan­der Karschnia und Nicola Nord nicht selbst mit auf der Bühne. Der Aufführung gelingt es, das Publikum auf eine temponautische Politreise mitzunehmen, bei der alles aus den Zeitfugen ist: Hitler und Sarrazin, Peter Alexander und Lena Meyer-Landrut, Guttenberg und Adenauer. Die Gruppe überrascht immer wieder mit einer Flut schräger Asso­ziationen, erhellender Pointen, Kalauern und unerwarteten Eingebungen: „Wutbürger – ist das was zu essen?" – „Hitler war der erste Wutbürger." – „Hätten die Indianer eine strikte Einwanderungspolitik betrieben und jeden Weißen unverzüglich wieder ins Meer geworfen, dann stünde es heute anders um die indianischen Nationen." Die Revue der andcompany ist ein amüsanter Abend über einen total unamüsierten Blick auf deutsche Ge­schichte, der die 50er-Jahre-Parodie in die Gegenwart ausweitet. Auf der Bühne steht da­für ein Hausgerüst in den Farben der deut­schen Flagge mit einem spießigen Jägerzaun obendrauf (Bühne Jan Brokof).

Wie in allen Arbeiten des Kollektivs wird deut­lich, dass wir nicht in einer friedlich-liberal gestimmten Demokratie angekommen sind, sondern in einer Gesellschaft der scheinheili­gen Macher, der Verbitterung über wachsen­de (und nicht etwa abnehmende) soziale Spal­tungen, in der man sich zunehmend bewusst wird, dass viele Probleme in ihrem Rahmen kaum lösbar sind. Auch die anderen „Tradi­tionen" der Anarchie, des Aufstands, die Er­innerung an den Kommunismus geraten hier nicht aus dem Blick – nicht aber als ideolo­gische Trompetenstöße, sondern als Denk­pausen.

Inmitten der Satire entstehen plötzlich auch Momente, wo das Lied „O mein Papa war eine wunderbare Clown, o mein Papa war eine gro­ße Kinstler …" berührend wirken kann wie ein Menetekel der deutsch-jüdischen Un­glücks- und Mordgeschichte. Ein deutsches 9/11 ist auch dabei, umspielt wird immer wieder der 9. November, deutsches Schicksals­datum: Räterepublik in München, Nazi-Ge­denktag für die gefallenen Kämpfer seit 1933, Reichskristallnacht, Fall der Mauer. Und wie der Zufall spielt, fand an einem 9. November die studentische Demonstration gegen den „Muff von 1000 Jahren" unter den Talaren statt, zündete an einem 9. November eine Bom­be vor dem jüdischen Gemeindehaus in West-Berlin und starb am 9. November 1974 das RAF-Mitglied Holger Meins im Hungerstreik. Das Ganze ist immer wieder vermischt mit erfrischendem Farcenunfug, der mit dem Schwergewicht vieler Themen die Balance hält. So zum Beispiel eine Hitler-Bruno-Ganz-Figur, die mit dem immer gleichen Satz aus dem „Untergang" – „Der Angriff Steiners wird das alles wieder in Ordnung bringen" – zuerst auf Nachrichten vom Zusammenbruch der Frontabschnitte 1945, dann aber auf alle nur denkbaren Themen reagiert: „Mein Füh­rer, umgangssprachlich befinden wir uns im Krieg." – „Der Angriff Steiners wird das al­les wieder in Ordnung bringen." – „Mein Füh­rer, der Doktortitel wurde ihnen wieder aber­kannt." – „Der Angriff Steiners wird das al­les wieder in Ordnung bringen …"

Man kann eine schöne szenische Politik da­rin finden, dass ernsthafte und diskurskom­patible Elemente immer wieder unversehens mit Blödsinn und willkürlich scheinenden An­spielungen verdrahtet sind (wie so oft bei Christoph Schlingensief, einem der Vorbilder für diese Arbeitsweise). Der Wechsel vom Ber­liner Hebbel am Ufer ans Deutsche Theater in Göttingen ist gelungen. Und man ist ge­spannt, wohin der Weg, die Wege dieses ei­gentümlichen Performancekollektivs and­company&Co. von hier aus führen werden.

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Deutschland-Dämmerung

Juliane Sattler, die deutsche bühne, 2011-05-01

Das Berliner Regieteam „andcompany&Co." mit den drei jungen Theatermachern Alexander Karschnia, Nicola Nord und Sascha Sulimma setzte am DT Göttingen seine Uraufführung „Wunderkinder" mit großem Aplomb auf die Bühne. Ein turbulentes, komödiantisches Geschichtsspektakel, in dessen Mittelpunkt die aus dem 1958 (in der damaligen Filmstadt Göttingen) gedrehten „Wir Wunderkinder"-Film entlehnten zwei ungleichen Freunde stehen: Bruno Tiches (Florian Eppinger), der Wendehals, und Hans Boeckel (Gerrit Neuhaus), der Aufrechte. Mal oben, mal unten. Der mit dem Machogebaren bleibt immer oben, der mit dem ehrlichen Doktortitel eher unten. So ist das Leben eben.

Auf der Bühne von Jan Brokof spuckt die dreistöckige schwarz-rot-goldene Box hundert Jahre Geschichte aus, das Publikum rauscht im freien Fall durch die Zeiten. Der Erzähler Wojo von Brouwer bringt, unterstützt von Musiker Hans Kaul, die Kommentare auf den Punkt, arbeitet mit unterschiedlichsten Querbezügen und verblüffenden Reflexionsebenen. Zwischen Melancholie, Witz und Karikatur bleibt nichts unangetastet, nichts unbelacht. Bis ins Heute spinnt das kreative Berliner Kollektiv, das auch die textliche Vorlage entwickelt hat, seinen Faden weiter: Präzise, intelligent und mit großer theatralischer Vielfalt.

Dreizehn Schauspieler, fast alle immer gleichzeitig auf der Bühne, schlüpfen in die unterschiedlichsten Rollen: Der Hitler von Lutz Gebhardt trägt einen halben Schnurrbart und gebärdet sich wie Bruno Ganz in „Der Untergang", der andere Hitler von Karl Miller erturnt sich wie ein chaplinesker Träumer die Weltherrschaft auf einem Gymnastikball. Und wenn der Krieg vorbei ist, liegen die Puppenhäuser umgeklappt auf der Erde, und das Ensemble nimmt am großen Tisch Platz. Ausgeträumt. Schade, dass die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nur kurz gestreift werden: Die Schauspieler tragen Transparente und jonglieren mit Stichworten: Studentenrevolte, RAF, Mauerfall, und die Wendehälse haben es längst geschafft. Da hat man doch schnell eine „Deutschland-Dämmerung", schreit eine Schauspielerin wütend.
Theater, unterhaltsam und politisch wie selten.

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Das jüngste Gerücht

Helge Ernst, litlog.de, 2011-03-22

Willkommen in der Postmoderne: Am DT Göttingen inszeniert das Performance-Kollektiv andcompany&Co. eine schrille, bunte und comichafte Dekonstruktion von Wolfgang Müllers Filmsatire Wir Wunderkinder und lädt zu einem Abend für Ohren, Augen und Kopf zugleich ein.

Der Film Wir Wunderkinder von 1958, basierend auf dem gleichnamigen satirischen Roman von Hugo Hartung, war seinerzeit eine nicht allzu ernste Auseinandersetzung mit der deutschen Vor- und Nachkriegszeit sowie der Machtergreifung der Nationalsozialisten. In der Bühnenadaption Wunderkinder, uraufgeführt am 12. März im DT Göttingen, geht es knapp 50 Jahre später nicht mehr so sehr um die NS-Zeit, sondern vielmehr um das »Hier und Heute«. In ihm werden die Lebensgeschichten zweier sehr unterschiedlicher Schulkameraden von 1913 bis in die 1950er betrachtet. Hans Boeckel ist einer der Anständigen, die sich dem Nationalsozialismus nicht anschließen, ihm aus politischer Naivität heraus aber auch keinen aktiven Widerstand leisten. Bruno Tiches hingegen ist erfolgreicher Mitläufer, der es stets versteht, obenauf zu bleiben und die Gegebenheiten zu seinem Vorteil zu nutzen. Während sich der Film hauptsächlich um diese Figuren dreht, geraten sie in der freien Adaption durch das Berliner Künstlerkollektiv andcompany&Co. eher zur Nebensache, obgleich der Rahmen derselbe bleibt.

Wie auch im Film wird das Publikum der Inszenierung von einem Erzähler und seinem musizierenden Kollegen (Wojo van Brouwer und Hans Kaul) durch den Abend geführt. Sie erzählen und begleiten Teile der Geschichte, die in buntem Treiben auf der Bühne illustriert werden, kommentieren das Geschehen, die Figuren und die sie verkörpernden Schauspieler, stimmen bissige Lieder an und animieren zum rhythmischen Mitklatschen. Folgt solchen Einlagen das Geschehen auf der Bühne wieder der eigentlichen Geschichte, wird davon berichtet, wie es Hans Boeckel (Gerrit Neuhaus) in seinem Studium in München ergeht, wie er erst seine erste, dann seine zweite große Liebe kennenlernt (beide gespielt von Marie-Isabel Walke), wie er in Dänemark heiratet und nach Deutschland zurückkehrt und dabei immer wieder auf den unverwüstlichen Opportunisten Bruno Tiches (Florian Eppinger) stößt.
»Quatsch mir nicht in die Kunst rein!«

Von diesem Plot löst sich die Inszenierung immer wieder und schwenkt ins Eigene, ins Aktuelle, in den Zeitgeist um. Gespielt wird meist schnell, laut, schrill, bunt, sogar comichaft in mancher Szene. Das Bühnenbild, ein kubisches Gerüst mit drei Etagen, wird im Handumdrehen von einer Wohnung zur Zirkusmanege zum Führerbunker. Riesiges Pappmaché-Obst wird verkauft, zum Essen gibt es Plastikkühe, überkarikierte Hitler-Darstellungen zucken und speien über die Bühne, stets stilecht mit Isolierband unter der Nase und immer wieder finden sich Gegenwartsbezüge unterschiedlichster Couleur. Egal ob das Lena-Meyer-Landrut-Spektakel, der Sarrazin-Skandal oder die jüngste Guttenberg-Plagiats-Affäre, das Stück glänzt teils mit ,twitter-esker‘ Aktualität. Als Schlagzeilen marschiert dergleichen über die Bühne, wird in stammtischartigen Schlagwort-Ergüssen aufgegriffen oder schlicht, aber elegant mit Zeilen aus dem Film kommentiert. Dort, wo die Inszenierung sich teils wortgenau am Skript des Films orientiert, trägt das Spiel der Darsteller das Stück auf alberne Weise ins Heute.

Das führt bisweilen zu bizarren Szenen, die mit Wortwitz und Situationskomik dennoch nie aus dem Rahmen fallen. Dort, wo der Film nicht Pate stand, ist alles erlaubt; das andächtige Halten einer übergroßen symbolträchtigen Banane, während kommentarlos ein Portrait des kürzlich verstorbenen Peter Alexander über die Bühne getragen wird. Oder ein im Glitzerkostüm zaghaft heranhampelndes Figürchen, das schelmisch grinsend halblaut verkündet, es sei »das jüngste Gerücht« und wieder abgeht. Oder auch eine ad absurdum geführte Replik einer markanten Führerbunker-Szene aus der Feder Bernd Eichingers: »Lutz, wir sind hier nicht bei Der Untergang und du bist auch nicht Bruno Ganz!« – »Mit dem Angrriff Steinerrs wirrd das alles wiederr in Orrdnung kommen!«. Daran zeigt sich auch einer der größten Unterschiede des Stückes zum Film abseits des Aktualitätsbezugs: Die Figuren, die Schauspieler und der Erzähler stehen im Dialog, kommentieren sich gegenseitig und springen damit immer wieder aus ihren Rollen. Das wirkt an manchen Stellen witzig, an anderen zu gewollt, lässt sich aber durchaus als Parodie auf moderne, manchmal etwas übereifrig geratene dramaturgische Selbstkritik im Sinne Brechts sehen.
»Gepinkelt wird immer.«

Der amüsante und vor allem schnelle Wechsel zwischen früher und heute, Plot und Rahmen geht jedoch auf Kosten der inneren Konsistenz des Stückes. Es wirkt anfangs wie eine Dichotomie, wenn sich am Film entlang gehangelt und zwischendurch immer wieder auf jüngeres und aktuelles Treiben rekurriert wird. Urplötzlich wird droben auf der Bühne über etwas ganz anderes gesprochen als im Satz zuvor, und manchmal fällt es schwer, die Fülle an Anspielungen, Verweisen und Persiflagen ad hoc gänzlich nachzuvollziehen. Darin findet sich einerseits Zeitgeist par excellence wieder; viel soll es sein, schnell und bunt, bloß keine Stagnation. Immerhin wird im Verlauf alles zunehmend breit gefächert, sodass dieser holprige Eindruck nicht über die volle Länge des Stückes bestehen bleibt. Andererseits deckt sich dieses Collagenhafte mit dem Gesamt-Konzept von andcompany&Co.

Das offene Künstlerkollektiv, das 2003 in Frankfurt am Main gegründet wurde, befasst sich meist mit der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts und sieht alles mit allem irgendwie verknüpft. Es konstruiert in seinen Inszenierungen ein »dichtes Verweissystem«, das alle möglichen kulturellen Ideen und Ideologien schnell verwertet und verbindet. Das zeigt auch die Inszenierung von Wunderkinder überdeutlich. Wäre das Stück ein sachlicher Aufsatz – es gäbe womöglich mehr Fußnoten als eigentlichen Volltext. Und obgleich dieses Konzept auf den ersten Blick anstrengend erscheinen mag, ist es zu weit mehr fähig als zu bloßem Verweisen und Verwirren. Es vermag eine Art Entdeckerdrang zu wecken und wer sich mitziehen lässt, dürfte gespannt sein, was für eine Kuriosität sich als nächstes abspielt, was sich erkennen und was im eigenen Oberstübchen einordnen lässt. Die assoziative Art des Stückes steckt an. Schade nur, dass keine Zeit bleibt, um länger bei einem Gedanken zu verweilen.

Einiger Ungereimtheiten zum Trotz ist Wunderkinder ein urkomisch überzogener, mit beiden Augen zwinkernder Rundumschlag durch die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Es erlaubt sich so einiges, trippelt leichtfüßig an komödiantischen Gefilden vorbei, die man sonst dem britischen Humor überantwortet weiß und hinterlässt in der Manier eines Till Eulenspiegel das Bild einer Gesellschaft, die vielleicht nicht weiß, was sie eigentlich grade tut, aber – immerhin! – für alles einen Namen hat.

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